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Die enge Definition von Gewalt als illegitime körperliche Verletzung des Gegenübers, wie sie wenige historische Lexika anbieten, ist handlich und erfüllt gute arbeitspragmatische Dienste, ist aber nur vermeintlich eindeutig. Wer Gewalt als illegitime Überschreitung der physischen Grenzen anderer begreift, kann Gewalt leicht abgrenzen. Mit Krieg, Mord, Vergewaltigung, Folter, Körperstrafen und Schlägerei ist das Untersuchungsfeld grob umrissen. Doch Gewalt ist vielschichtiger. Es ist nicht so einfach zu bestimmen, wo Körper und körperliche Verletzung anfängt, wo Aggression in Gewalt umschlägt. Reicht ein blauer Fleck für "Gewalt" aus oder muss Blut fließen? Ist es keine Gewalt, wenn ich eine Person einsperre, um über sie verfügen zu können, ohne sie dafür körperlich anzutasten?
Kann eine illegitime physische Verletzung nicht auch toleriert werden? Gewalt geschieht nicht nur mit Händen und Waffen, sondern auch mit Worten und Gesten. Sie verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Sie ist nicht nur roh, sondern auch ritualisiert. Nicht umsonst definieren Überblicksdarstellungen der Psychologie, Pädagogik, Kriminologie oder Soziologie Gewalt als körperliche Grenzverletzung, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass Gewalt über physische Verletzung hinausgeht. Ich halte daher aus zwei Gründen einen weiter gefassten Gewaltbegriff für die Erforschung von Gewalt für notwendig.
Erstens erweist sich das Kriterium der körperlichen Grenze nicht als überzeugend. Das Problem, wo Gewalt anfängt beziehungsweise aufhört, stellt sich nicht erst heute, sondern sorgte auch im Zürich der Helvetik für Unsicherheiten. Mit der Helvetischen Verfassung von 1798 war zwar die Folter abgeschafft worden, doch belegen Nachfragen der regionalen Gerichte, dass damit noch längst nicht klargestellt war, was hieraus folgte. Aus der Erfahrung, dass die Amtleute der untergeordneten Behörden die Angeklagten mit Stockschlägen zu einem Geständnis zu bewegen versucht hatten, verfügte der Rat als Gesetzgeber schließlich, dass "nicht nur alle bekannten Gattungen der Folter, welche ehemals in eint und andern Orten üblich waren, sondern alle körperliche Peinigung, als Zwangmittel zu Erpreßung eines Geständnißes bei Nachsuchung der Verbrechen gänzlich untersagt" seien. Offenbar bedurften die Untersuchungsbehörden genauerer Bestimmungen, um zu erkennen, wo die Grenzen zu illegitimer körperlicher Verletzung verliefen.
Aus einem offeneren Gewaltbegriff folgt zweitens nicht, dass alles und jedes zu Gewalt deklariert wird. Wenn Gewalt als eine Normüberschreitung verstanden wird, die eine Gesellschaft für unerträglich hält, dann ist Gewalt eine Form sozialen Handelns, die konzeptionell eingegrenzt werden kann. In einer Gesellschaft, in der die körperliche Unversehrtheit eines Menschen keine soziale Norm ist, kann - wie in der Frühen Neuzeit - der Ehemann verpflichtet sein, die Ehefrau körperlich zu "maßregeln", ohne dass die Grenzen zwischen legitimer und nicht mehr tolerabler Gewalt klar wären. In Gesellschaften, in denen - wie dies in westlichen Industrieländern bis vor einigen Jahrzehnten der Fall war - dem Ehemann ein Anrecht auf notfalls mit Gewalt erzwungenen ehelichen Geschlechtsverkehr zugestanden wird, entspricht die invasive körperliche Handlung einer sinnvollen und gesellschaftsstabilisierenden, das heißt die Institution der Ehe begründenden Norm. Die Regeln, die das Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft prägen, bestimmen also, was in dieser Gesellschaft als Gewalt betrac
Die enge Definition von Gewalt als illegitime körperliche Verletzung des Gegenübers, wie sie wenige historische Lexika anbieten, ist handlich und erfüllt gute arbeitspragmatische Dienste, ist aber nur vermeintlich eindeutig. Wer Gewalt als illegitime Überschreitung der physischen Grenzen anderer begreift, kann Gewalt leicht abgrenzen. Mit Krieg, Mord, Vergewaltigung, Folter, Körperstrafen und Schlägerei ist das Untersuchungsfeld grob umrissen. Doch Gewalt ist vielschichtiger. Es ist nicht so einfach zu bestimmen, wo Körper und körperliche Verletzung anfängt, wo Aggression in Gewalt umschlägt. Reicht ein blauer Fleck für "Gewalt" aus oder muss Blut fließen? Ist es keine Gewalt, wenn ich eine Person einsperre, um über sie verfügen zu können, ohne sie dafür körperlich anzutasten?
Kann eine illegitime physische Verletzung nicht auch toleriert werden? Gewalt geschieht nicht nur mit Händen und Waffen, sondern auch mit Worten und Gesten. Sie verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Sie ist nicht nur roh, sondern auch ritualisiert. Nicht umsonst definieren Überblicksdarstellungen der Psychologie, Pädagogik, Kriminologie oder Soziologie Gewalt als körperliche Grenzverletzung, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass Gewalt über physische Verletzung hinausgeht. Ich halte daher aus zwei Gründen einen weiter gefassten Gewaltbegriff für die Erforschung von Gewalt für notwendig.
Erstens erweist sich das Kriterium der körperlichen Grenze nicht als überzeugend. Das Problem, wo Gewalt anfängt beziehungsweise aufhört, stellt sich nicht erst heute, sondern sorgte auch im Zürich der Helvetik für Unsicherheiten. Mit der Helvetischen Verfassung von 1798 war zwar die Folter abgeschafft worden, doch belegen Nachfragen der regionalen Gerichte, dass damit noch längst nicht klargestellt war, was hieraus folgte. Aus der Erfahrung, dass die Amtleute der untergeordneten Behörden die Angeklagten mit Stockschlägen zu einem Geständnis zu bewegen versucht hatten, verfügte der Rat als Gesetzgeber schließlich, dass "nicht nur alle bekannten Gattungen der Folter, welche ehemals in eint und andern Orten üblich waren, sondern alle körperliche Peinigung, als Zwangmittel zu Erpreßung eines Geständnißes bei Nachsuchung der Verbrechen gänzlich untersagt" seien. Offenbar bedurften die Untersuchungsbehörden genauerer Bestimmungen, um zu erkennen, wo die Grenzen zu illegitimer körperlicher Verletzung verliefen.
Aus einem offeneren Gewaltbegriff folgt zweitens nicht, dass alles und jedes zu Gewalt deklariert wird. Wenn Gewalt als eine Normüberschreitung verstanden wird, die eine Gesellschaft für unerträglich hält, dann ist Gewalt eine Form sozialen Handelns, die konzeptionell eingegrenzt werden kann. In einer Gesellschaft, in der die körperliche Unversehrtheit eines Menschen keine soziale Norm ist, kann - wie in der Frühen Neuzeit - der Ehemann verpflichtet sein, die Ehefrau körperlich zu "maßregeln", ohne dass die Grenzen zwischen legitimer und nicht mehr tolerabler Gewalt klar wären. In Gesellschaften, in denen - wie dies in westlichen Industrieländern bis vor einigen Jahrzehnten der Fall war - dem Ehemann ein Anrecht auf notfalls mit Gewalt erzwungenen ehelichen Geschlechtsverkehr zugestanden wird, entspricht die invasive körperliche Handlung einer sinnvollen und gesellschaftsstabilisierenden, das heißt die Institution der Ehe begründenden Norm. Die Regeln, die das Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft prägen, bestimmen also, was in dieser Gesellschaft als Gewalt betrac
Erscheinungsjahr: | 2012 |
---|---|
Genre: | Geschichte |
Jahrhundert: | Neuzeit |
Rubrik: | Geisteswissenschaften |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 249 S. |
ISBN-13: | 9783593397207 |
ISBN-10: | 359339720X |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Loetz, Francisca |
Auflage: | 1/2012 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 219 x 146 x 21 mm |
Von/Mit: | Francisca Loetz |
Erscheinungsdatum: | 08.10.2012 |
Gewicht: | 0,403 kg |
Erscheinungsjahr: | 2012 |
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Genre: | Geschichte |
Jahrhundert: | Neuzeit |
Rubrik: | Geisteswissenschaften |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 249 S. |
ISBN-13: | 9783593397207 |
ISBN-10: | 359339720X |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Loetz, Francisca |
Auflage: | 1/2012 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 219 x 146 x 21 mm |
Von/Mit: | Francisca Loetz |
Erscheinungsdatum: | 08.10.2012 |
Gewicht: | 0,403 kg |