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Gebärende unter Beobachtung
Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750-1830), Geschichte und Geschlechter 71
Taschenbuch von Lucia Aschauer
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
1. Einleitung1.1 Der Fall Siccaud.Konstitution des UntersuchungsgegenstandesIm Herbst des Jahres 1754 tritt die 37-jährige Demoiselle Siccaud in den Stand der Ehe. Kurze Zeit darauf häufen sich die Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft: Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen in der Farbe und Form der Brüste sowie eine unbändige Lust auf bestimmte Nahrungsmittel. Rasch kommen die untrüglichen Bewegungen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes dazu. Der hinzugerufene Arzt Monsieur Deydier bestätigt bei seiner Ankunft im Hause der Schwangeren die Selbstdiagnose seiner Patientin. Lediglich die fortdauernde Monatsblutung der Demoiselle bereitet ihm Sorgen, die sich bald als begründet erweisen: Im vierten Schwangerschaftsmonat erleidet die Patientin eine Fehlgeburt und statt eines Kindes wird dem Arzt ein blutiges, heuschreckenartiges Etwas vorgelegt.Auf den Schrecken dieser unheilvollen Niederkunft folgt wenige Zeit später eine zweite Schwangerschaft. Zunächst deutet alles auf einen unproblematischen Verlauf hin, doch erneut lässt das Unglück nicht lange auf sich warten. Die erwartete Geburt bleibt aus und die Demoiselle leidet monatelang unter schmerzhafter Wassersucht, die sie zur Bettruhe zwingt. Nahezu zwei Jahre vergehen, bevor sie im Februar des Jahres 1757 schließlich mithilfe ihrer Hebamme ein totes Kind zur Welt bringt. Noch im selben Jahr wird die Geschichte der Demoiselle Siccaud und ihrer kuriosen Schwangerschaften in der Rubrik »Observations de Médecine« der Zeitschrift Recueil périodique d'observations de médecine, de chirurgie et de pharmacie unter der Überschrift »Histoire d'une fausse-couche singulière, suivie peu de tems après d'une grossesse extraordinaire« einem medizinischen Fachpublikum präsentiert.Die erste Konfrontation der Leserin mit dem Fall Siccaud löst heute Befremden aus. Aus der ärztlichen Schilderung spricht eine beunruhigende Unkenntnis der weiblichen Physiologie, Aderlass und Purgieren werden als wertvolle Therapiemaßnahmen bei Schwangerschaftskomplikationen gepriesen und die Demoiselle erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Linderung ihrer Schmerzen. Mit anderen Worten, dieser Fall von Monstergeburt und nicht enden wollender Gravidität scheint einem obskuren, geradezu vorwissenschaftlichen Zeitalter zu entspringen. Um Sinn aus dieser auf den ersten Blick unsinnigen Erzählung zu schaffen, führt der Weg - so die methodische Grundvoraussetzung vorliegender Untersuchung - über die Historisierung, die mit Glenn Most als »a specific mode of cognitive activity which defines a body of knowledge [...] by its temporal structure« definiert werden kann. Im Fall der Demoiselle Siccaud bedarf das Befremdliche, seien es medizinische Begriffe, ärztliche Argumentationsweisen oder geburtshilfliche Praktiken, einer Rückführung in seine ursprünglichen epistemischen Welten. Gleichzeitig gilt es, irreführenden retrospektiven Diagnosen vorzubeugen, indem Vorannahmen, die auf heutigen medizinischen Kenntnissen gründen, kenntlich gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demoiselle Siccaud erfordert daher sowohl Kontextualisierung, das Vertrautmachen des Fremden, als auch Entfamiliarisierung, das Fremdmachen des Vertrauten.Über die Historisierung von konkreten medizinischen Begriffen und Praktiken hinaus muss die Analyse des Falls Siccaud eine tiefergreifende Historisierung von Körperlichkeit leisten. Wird der Demoiselle gleich im ersten Satz des ärztlichen Berichts ein »tempérament sanguin, vif & bileux« attestiert, deutet dies auf den nachhaltigen Erfolg humoralpathologischer Erklärungsmuster hin, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Diskurse zugleich prägten. Spätestens die detailreiche Beschreibung des toten Fötus, den der Arzt einer gewissenhaften Sektion unterzieht, zeugt jedoch von dem Herannahen eines neuen, anatomisch-physiologischen Körperbildes. Auch die Darstellung der monströsen Fehlgeburt der Demoiselle ist nicht frei
1. Einleitung1.1 Der Fall Siccaud.Konstitution des UntersuchungsgegenstandesIm Herbst des Jahres 1754 tritt die 37-jährige Demoiselle Siccaud in den Stand der Ehe. Kurze Zeit darauf häufen sich die Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft: Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen in der Farbe und Form der Brüste sowie eine unbändige Lust auf bestimmte Nahrungsmittel. Rasch kommen die untrüglichen Bewegungen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes dazu. Der hinzugerufene Arzt Monsieur Deydier bestätigt bei seiner Ankunft im Hause der Schwangeren die Selbstdiagnose seiner Patientin. Lediglich die fortdauernde Monatsblutung der Demoiselle bereitet ihm Sorgen, die sich bald als begründet erweisen: Im vierten Schwangerschaftsmonat erleidet die Patientin eine Fehlgeburt und statt eines Kindes wird dem Arzt ein blutiges, heuschreckenartiges Etwas vorgelegt.Auf den Schrecken dieser unheilvollen Niederkunft folgt wenige Zeit später eine zweite Schwangerschaft. Zunächst deutet alles auf einen unproblematischen Verlauf hin, doch erneut lässt das Unglück nicht lange auf sich warten. Die erwartete Geburt bleibt aus und die Demoiselle leidet monatelang unter schmerzhafter Wassersucht, die sie zur Bettruhe zwingt. Nahezu zwei Jahre vergehen, bevor sie im Februar des Jahres 1757 schließlich mithilfe ihrer Hebamme ein totes Kind zur Welt bringt. Noch im selben Jahr wird die Geschichte der Demoiselle Siccaud und ihrer kuriosen Schwangerschaften in der Rubrik »Observations de Médecine« der Zeitschrift Recueil périodique d'observations de médecine, de chirurgie et de pharmacie unter der Überschrift »Histoire d'une fausse-couche singulière, suivie peu de tems après d'une grossesse extraordinaire« einem medizinischen Fachpublikum präsentiert.Die erste Konfrontation der Leserin mit dem Fall Siccaud löst heute Befremden aus. Aus der ärztlichen Schilderung spricht eine beunruhigende Unkenntnis der weiblichen Physiologie, Aderlass und Purgieren werden als wertvolle Therapiemaßnahmen bei Schwangerschaftskomplikationen gepriesen und die Demoiselle erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Linderung ihrer Schmerzen. Mit anderen Worten, dieser Fall von Monstergeburt und nicht enden wollender Gravidität scheint einem obskuren, geradezu vorwissenschaftlichen Zeitalter zu entspringen. Um Sinn aus dieser auf den ersten Blick unsinnigen Erzählung zu schaffen, führt der Weg - so die methodische Grundvoraussetzung vorliegender Untersuchung - über die Historisierung, die mit Glenn Most als »a specific mode of cognitive activity which defines a body of knowledge [...] by its temporal structure« definiert werden kann. Im Fall der Demoiselle Siccaud bedarf das Befremdliche, seien es medizinische Begriffe, ärztliche Argumentationsweisen oder geburtshilfliche Praktiken, einer Rückführung in seine ursprünglichen epistemischen Welten. Gleichzeitig gilt es, irreführenden retrospektiven Diagnosen vorzubeugen, indem Vorannahmen, die auf heutigen medizinischen Kenntnissen gründen, kenntlich gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demoiselle Siccaud erfordert daher sowohl Kontextualisierung, das Vertrautmachen des Fremden, als auch Entfamiliarisierung, das Fremdmachen des Vertrauten.Über die Historisierung von konkreten medizinischen Begriffen und Praktiken hinaus muss die Analyse des Falls Siccaud eine tiefergreifende Historisierung von Körperlichkeit leisten. Wird der Demoiselle gleich im ersten Satz des ärztlichen Berichts ein »tempérament sanguin, vif & bileux« attestiert, deutet dies auf den nachhaltigen Erfolg humoralpathologischer Erklärungsmuster hin, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Diskurse zugleich prägten. Spätestens die detailreiche Beschreibung des toten Fötus, den der Arzt einer gewissenhaften Sektion unterzieht, zeugt jedoch von dem Herannahen eines neuen, anatomisch-physiologischen Körperbildes. Auch die Darstellung der monströsen Fehlgeburt der Demoiselle ist nicht frei
Details
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Geschichte
Jahrhundert: Neuzeit
Rubrik: Geisteswissenschaften
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 344 S.
ISBN-13: 9783593509556
ISBN-10: 3593509555
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Aschauer, Lucia
Auflage: 1/2020
campus verlag: Campus Verlag
Maße: 215 x 140 x 23 mm
Von/Mit: Lucia Aschauer
Erscheinungsdatum: 18.12.2019
Gewicht: 0,431 kg
Artikel-ID: 113667569
Details
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Geschichte
Jahrhundert: Neuzeit
Rubrik: Geisteswissenschaften
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 344 S.
ISBN-13: 9783593509556
ISBN-10: 3593509555
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Aschauer, Lucia
Auflage: 1/2020
campus verlag: Campus Verlag
Maße: 215 x 140 x 23 mm
Von/Mit: Lucia Aschauer
Erscheinungsdatum: 18.12.2019
Gewicht: 0,431 kg
Artikel-ID: 113667569
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