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Dekorationsartikel gehören nicht zum Leistungsumfang.
Demokratie erschreiben
Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950-1974
Taschenbuch von Michaela Fenske
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
2. Sich in eine Tradition einschreiben: Aneignungen des Mediums

Zeit, zu schreiben

»Gern greife ich nicht zur Feder«, eröffnete Gert M. im März 1954 seinen Brief an den niedersächsischen Landtag. Er fühle sich durch die Protestkundgebungen der katholischen Elternschaft gegen das geplante niedersächsische Schulgesetz jedoch zu seiner Stellungnahme gezwungen. Gert M. hatte seine eigene Schulzeit in einer katholischen Schule nämlich in unguter Erinnerung. Nun wollte er sich stellvertretend »für den größten Teil der niedersächsischen Bevölkerung« hinter die Gesetzesinitiative stellen. Auch andere Schreiber sprachen eine längere Zeit des Nachdenkens an, bevor sie sich entschlossen hätten, zu schreiben. Man habe sich »diesen Schritt [....] wohl überlegt«, schreibe erst »nach langem Zögern« und nicht »aus Spaß« - so oder ähnlich leiteten viele Bürger ihre Briefe ein. Eine besonders lange Entschlusszeit lag dem Schreiben von Emilie M. zugrunde: Sie versah ihren Brief an den Ministerpräsidenten Kubel mit drei verschiedenen Datumsangaben. Über drei Monate lang hatte die Frau immer wieder von Neuem an ihrem Brief geschrieben, bevor sie sich entschließen konnte, ihn abzuschicken. Es bedurfte in vielen Fällen schon eines besonderen Anliegens oder gravierender Notlagen, um »zur Feder« zu greifen. Bevor sie an die Politiker oder die Parlamente schrieben, hatten die Schreiber ihr Anliegen intensiv durchdacht. Oft hatten sie bereits einige glücklose Anstrengungen unternommen, um Probleme zu lösen. Andere Behörden und Personen waren vergeblich um Hilfe gebeten, Gerichte erfolglos angerufen worden. Am Ende einer längeren Odyssee angekommen, schrieb man »in letzte[r] Minute«, »in letzter Verzweifelung«, »weil alles andere ausgeschöpft« war und »in größter Not«.

Dem Schreiben eines Briefes an politische Repräsentanten und Institutionen gingen nach Aussagen der Schreiber mehr oder weniger ausgeprägte Phasen der Selbstüberwindung voraus. Wer schrieb, hatte demnach oft Leidensdruck. Bei den häufigen und formelhaften Hinweisen der Schreiber auf ihre Selbstüberwindung handelt es sich um standardisierte briefliche Einführungsfloskeln. Sie dienten dazu, die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit der Anliegen zu unterstreichen. Zugleich weisen sie jedoch auch auf einige allgemeine Voraussetzungen des Briefeschreibens im deutschen Nachkrieg hin. Demnach erfolgte das Schreiben an politische Vertreter in der neu gegründeten Republik selten spontan und nach Aussage einiger Schreiber schon gar nicht mit leichter Hand. Wenn man - wie es die Darstellungen der Schreiber nahelegen und wie es in manchen kulturwissenschaftlichen Brieftheorien gesehen wird - davon ausgeht, dass sich den Bürgern mittels ihrer Briefe ein spezifischer Kommunikations-, Handlungs- und Erfahrungsraum eröffnete, so hatten manche von ihnen vor Betreten dieses Raumes einige Hemmschwellen zu überschreiten. Diese Schreibhemmnisse waren nicht zuletzt mit dem Medium Brief verbunden. Als ein Instrument zwischen »Rede und Schrift« setzt das Schreiben eines Briefes bestimmte Mittel und Fertigkeiten voraus. Es ist ferner mit »Zwängen und Möglichkeiten schriftsprachlichen Handelns« verbunden. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke spricht in seiner Mediologie davon, wie mit Schrift eine eigene Wirklichkeit geschaffen werden kann. Schrift ermöglicht der schreibenden Person demnach eine spezifische Sinnproduktion und die Erzeugung besonderer Nähe. Bevor diese Möglichkeit jedoch von den Schreibern in der Nachkriegszeit genutzt werden konnte, galt es, mögliche Konflikte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu bewältigen sowie weitere Hürden zu überwinden. Um diese Voraussetzungen des Schreibens soll es im vorliegenden Kapitel ebenso gehen wie um Anregungen und Ermutigungen, die das Schreiben begünstigten.

Unmittelbar nach dem Krieg waren die Bedingungen für das Schreiben von Briefen - das Vorhandensein von Papier, Umschlägen, Stiften oder gar Schreibmaschinen, Briefmarken sowie von G

2. Sich in eine Tradition einschreiben: Aneignungen des Mediums

Zeit, zu schreiben

»Gern greife ich nicht zur Feder«, eröffnete Gert M. im März 1954 seinen Brief an den niedersächsischen Landtag. Er fühle sich durch die Protestkundgebungen der katholischen Elternschaft gegen das geplante niedersächsische Schulgesetz jedoch zu seiner Stellungnahme gezwungen. Gert M. hatte seine eigene Schulzeit in einer katholischen Schule nämlich in unguter Erinnerung. Nun wollte er sich stellvertretend »für den größten Teil der niedersächsischen Bevölkerung« hinter die Gesetzesinitiative stellen. Auch andere Schreiber sprachen eine längere Zeit des Nachdenkens an, bevor sie sich entschlossen hätten, zu schreiben. Man habe sich »diesen Schritt [....] wohl überlegt«, schreibe erst »nach langem Zögern« und nicht »aus Spaß« - so oder ähnlich leiteten viele Bürger ihre Briefe ein. Eine besonders lange Entschlusszeit lag dem Schreiben von Emilie M. zugrunde: Sie versah ihren Brief an den Ministerpräsidenten Kubel mit drei verschiedenen Datumsangaben. Über drei Monate lang hatte die Frau immer wieder von Neuem an ihrem Brief geschrieben, bevor sie sich entschließen konnte, ihn abzuschicken. Es bedurfte in vielen Fällen schon eines besonderen Anliegens oder gravierender Notlagen, um »zur Feder« zu greifen. Bevor sie an die Politiker oder die Parlamente schrieben, hatten die Schreiber ihr Anliegen intensiv durchdacht. Oft hatten sie bereits einige glücklose Anstrengungen unternommen, um Probleme zu lösen. Andere Behörden und Personen waren vergeblich um Hilfe gebeten, Gerichte erfolglos angerufen worden. Am Ende einer längeren Odyssee angekommen, schrieb man »in letzte[r] Minute«, »in letzter Verzweifelung«, »weil alles andere ausgeschöpft« war und »in größter Not«.

Dem Schreiben eines Briefes an politische Repräsentanten und Institutionen gingen nach Aussagen der Schreiber mehr oder weniger ausgeprägte Phasen der Selbstüberwindung voraus. Wer schrieb, hatte demnach oft Leidensdruck. Bei den häufigen und formelhaften Hinweisen der Schreiber auf ihre Selbstüberwindung handelt es sich um standardisierte briefliche Einführungsfloskeln. Sie dienten dazu, die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit der Anliegen zu unterstreichen. Zugleich weisen sie jedoch auch auf einige allgemeine Voraussetzungen des Briefeschreibens im deutschen Nachkrieg hin. Demnach erfolgte das Schreiben an politische Vertreter in der neu gegründeten Republik selten spontan und nach Aussage einiger Schreiber schon gar nicht mit leichter Hand. Wenn man - wie es die Darstellungen der Schreiber nahelegen und wie es in manchen kulturwissenschaftlichen Brieftheorien gesehen wird - davon ausgeht, dass sich den Bürgern mittels ihrer Briefe ein spezifischer Kommunikations-, Handlungs- und Erfahrungsraum eröffnete, so hatten manche von ihnen vor Betreten dieses Raumes einige Hemmschwellen zu überschreiten. Diese Schreibhemmnisse waren nicht zuletzt mit dem Medium Brief verbunden. Als ein Instrument zwischen »Rede und Schrift« setzt das Schreiben eines Briefes bestimmte Mittel und Fertigkeiten voraus. Es ist ferner mit »Zwängen und Möglichkeiten schriftsprachlichen Handelns« verbunden. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke spricht in seiner Mediologie davon, wie mit Schrift eine eigene Wirklichkeit geschaffen werden kann. Schrift ermöglicht der schreibenden Person demnach eine spezifische Sinnproduktion und die Erzeugung besonderer Nähe. Bevor diese Möglichkeit jedoch von den Schreibern in der Nachkriegszeit genutzt werden konnte, galt es, mögliche Konflikte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu bewältigen sowie weitere Hürden zu überwinden. Um diese Voraussetzungen des Schreibens soll es im vorliegenden Kapitel ebenso gehen wie um Anregungen und Ermutigungen, die das Schreiben begünstigten.

Unmittelbar nach dem Krieg waren die Bedingungen für das Schreiben von Briefen - das Vorhandensein von Papier, Umschlägen, Stiften oder gar Schreibmaschinen, Briefmarken sowie von G

Details
Erscheinungsjahr: 2013
Genre: Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 437 S.
ISBN-13: 9783593395722
ISBN-10: 359339572X
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Autor: Fenske, Michaela
Auflage: 1/2013
campus verlag: Campus Verlag
Maße: 217 x 142 x 26 mm
Von/Mit: Michaela Fenske
Erscheinungsdatum: 02.10.2013
Gewicht: 0,541 kg
Artikel-ID: 105932436
Details
Erscheinungsjahr: 2013
Genre: Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 437 S.
ISBN-13: 9783593395722
ISBN-10: 359339572X
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Autor: Fenske, Michaela
Auflage: 1/2013
campus verlag: Campus Verlag
Maße: 217 x 142 x 26 mm
Von/Mit: Michaela Fenske
Erscheinungsdatum: 02.10.2013
Gewicht: 0,541 kg
Artikel-ID: 105932436
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