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Beschreibung
Unser Fluß war der Hudson River. Wir haben ihn in seiner ganzen Länge verfolgt, wir sind an beiden Ufern entlanggefahren, oft nah am Wasser, nie habe ich ihn anders gesehen als mächtig in seiner Breite und grau von den Schatten seiner bewaldeten Ufer, grau von dem Schlamm, den er von dem fruchtbaren Hügelland seines Oberlaufs mitnimmt. Wir sind an seinen steinigen Ufern gesessen, jede Stadt an seinem Unterlauf hat ihre Parks mit Holztischen und Bänken für Picknicks, ihren Kinderschaukeln, Sandkisten und Abfallkübeln am Ufer, Irvington, Poughkeepsie, aber er ist kein Fluß, an dem man die Kinder allein spielen läßt, kein Fluß zum Baden, er ist ein fremder Riese auf der Durchreise, der kalt und streng seine Schneise durch die Berge schlägt, und nur selten spannen sich leicht gewölbte Brückenkonstruktionen über ihm aus, einschüchternde Stahlfesseln aus nächster Nähe, spinnwebenleichte Spitzenmuster aus der Ferne. Irgendwo zwischen Tarrytown und Irvington weitet der Hudson sich zum Meeresarm, verliert seine Strömung, drängt die Wälder zurück, und die Segelboote und Bojen tanzen auf seinem geriffelten Wasser, als gäbe es keinen Flußlauf mehr, nur diesen großen See zwischen den Felsen und der Metropole in der Ferne, unentschlossen, wohin er sich von der Strömung ziehen läßt. Als wohne man einem Unheil bei, so sieht man seinem Ende entgegen, die taubengraue Skyline von Manhattan steht am Horizont wie ein schwacher Damm. Das freie Auge kann nicht erkennen, wo sich das Salzwasser in den Schlammfluten auflöst und das Süßwasser sich mit dem Atlantik vermischt. Es ist kein abruptes Ende, es ist wie ein Aufgeben, als schwänden die Kräfte, die ihn zur Mündung treiben, und er ließe die salzigen Wassermassen des Atlantiks ohne Widerstand tief in sein weit offenes Bett. Auch der Tod eines Flusses ist furchterregend.
Leonard, warum gehst Du nicht dorthin zurück, ins Hudson Tal, nach Saratoga, nach Amerika? Du sagst, Amerika sei Dir fremd geworden, Du verstehst es nicht mehr, Du liebst es nicht einmal. Aber Du hast seit dreißig Jahren Heimweh, ich höre es in Deiner Stimme, wenn Du vom Hudson redest oder wenn Du sagst, wie sehr das Meer Dir fehlt. Ich spüre es, wenn ich Dich besuche, wie fehl am Platz Du Dich fühlst. Du rufst Dir seine Kindheitslandschaften wach, und es ist wie ein Besuch zu Hause. Der Hudson River an seinem Oberlauf, dort, wo er bereits ein gezähmter Fluß ist und sogar Inseln in seinem Bett stehenläßt. Du hast Dir dieses Haus auf dem Hang über der Donau gekauft, weil sie Dich da, kurz vor Budapest, an den Hudson bei Albany erinnert. Dort kann man von seinem Ufer den braunen Wellen und Kreiseln der Stromschnellen zusehen, wenn die tiefstehende Sonne Lichtfunken über das Wasser springen läßt.
Ich habe ein Foto von Dir, von dem ich nicht mehr genau weiß, wo ich es aufgenommen habe. Da sitzt Du auf einer ramponierten Parkbank an einem Flußufer, einem Stück Wiese mit tief herunterhängenden Weiden und einem schmalen Strand mit runden, vom Wasser abgeschliffenen Granitfelsen. Du schaust nicht in die Kamera, Du scheinst gar nicht zu merken, daß ich Dich durch die Linse beobachte. Du blickst auf das Wasser mit einer resignierten Traurigkeit. Ich habe überlegt, ob Du schon so grau und müde ausgesehen hast, als wir das letzte Mal zusammen am Hudsonufer in Poughkeepsie waren.
In Albany, nahe der Universität, eine halbe Stunde vom Hudson entfernt, war diese Galerie mit schlechter zeitgenössischer Kunst, Vernissagebesucher standen mit Weingläsern herum, und ich wollte gerade gehen, zum Fluß hinunter, bevor die Sonne unterging. In jeder Stadt suche ich das Wasser, um mich zu orientieren. Du kamst auf mich zu, feingliedrig, dunkelhaarig und aus heutiger Sicht unvorstellbar jung, verbeugtest Dich wie ein freundlicher Diplomat und sagtest, Welcome to America. Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist.
Jeder von uns beiden hat im Lauf der Jahre den anderen gefragt: Wäre es Dir lieber, wir wären aneinander vorbeigegangen unter den scheußlichen Bildern der Galerie in Albany? Aber manchmal bedarf es nur eines leichten Luftzugs, als sei das Leben ein Staubkorn in einer zugigen Gasse. Wir waren jung, voll Furcht und Erwartung, damals konnte von jeder zufälligen Begegnung die Zukunft abhängen. Du nahmst Deinen ganzen Mut zusammen, mich anzusprechen, und dann warst Du zu nervös, mir zuzuhören. Es war kein rechtes Gespräch, das wir führten, es war, als stünden wir in einem elektrischen Feld, in dem es darauf ankam, mit den richtigen Sätzen seine Haut zu retten. Deine unruhigen Augen suchten einen Fluchtweg, und es gelang ihnen erst, meinem Blick zu begegnen, als wir auf Dinge zu sprechen kamen, bei denen Du Dich auskanntest. Während Du mir mit lebhafter Intensität von Deiner Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville erzähltest und Deine Nervosität vergaßt, sah ich, daß Du sanfte graugrüne Augen mit langen, gebogenen Wimpern hattest und daß die Knochen unter Deinem ein wenig zur Pausbäckigkeit neigenden Gesicht fein wie die Linien einer Alabastergemme waren.
Wußten Sie, daß Herman Melville als Jugendlicher in der Market Street, zwei Straßen weiter westlich von hier gewohnt hat, fragtest Du mich unvermittelt, und auf meinen erstaunten Blick erklärtest Du: Vor drei Wochen habe ich meine Dissertation über Außenseiter in seinem Prosawerk eingereicht.
So begann unser erstes Gespräch.
Warum über Außenseiter? fragte ich, und schon war meine Bereitschaft, Dich zu bestaunen, geweckt. Als hätten wir damals die geringste Ahnung gehabt, wovon wir redeten. Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung. Wie leicht es uns damals fiel, über Dinge zu reden, die andere schon gedacht und aufgeschrieben hatten.
Aber da muß eine Ahnung gewesen sein, etwas wie ein Schatten am Ende des Weges, eine atmosphärische Verdichtung, die uns neugierig machte und anzog. Vom Ende her paßt alles ineinander wie die Teile der vielen Puzzles, die unser Sohn später mit so viel Leidenschaft legen sollte, lange bevor er die Welt um sich herum verstand. Auch er gehörte von Anfang an zu diesem komplizierten Muster, das sich um uns schloß, als wären wir die verborgenen Figuren in einem Suchbild.
Du gabst mir Deine Dissertation bald darauf zum Lesen, warfst Dich in Pose und deklamiertest einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz. Ist das nicht genial? riefst Du begeistert. Du warst damals von Deiner Klugheit sehr überzeugt.
Was hat Melville außer »Moby Dick« noch geschrieben, erkundigte ich mich.
Wer nie versagt hat, dem fehlt es an Größe, entgegnetest Du mit einem Zitat statt mit Buchtiteln. Dann recktest Du ein wenig kokett das Kinn, wie Du es jedesmal vor der Kamera machst, als wolltest Du fragen, was sagst du nun dazu. Das schrieb er als Dreißigjähriger, belehrtest Du mich, das muß man sich vorstellen.
Du hattest manchmal eine an Pedanterie grenzende Ernsthaftigkeit an Dir, die mich irritierte, und zugleich etwas Widerspenstiges, das mich anzog. Wir waren beide so voller Unsicherheiten und versuchten sie mit prahlerischem Selbstbewußtsein zu überspielen.
Und wie alt sind Sie? fragtest Du unvermittelt, als erwartetest Du, daß jeder ab einem bestimmten Alter mit Lebensweisheiten aufwarten müsse.
Ich sagte, noch nicht alt genug für Aphorismen. Wir lachten, und Du fandest einen Vorwand, mich zu berühren. Ich mochte
Deine verschmitzte Art, peinlichen Situationen und Sätzen mit Ironie die Spitze zu brechen.
Noch hätte ich mich verabschieden und gehen können, aber statt dessen folgte ich Dir auf die Straße und in ein Restaurant, wo ich zu Deinem Erstaunen ein Roastbeefsandwich mit Messer und Gabel traktierte. Und in den nächsten Tagen liefen wir uns ständig über den Weg, wir legten es beide darauf an, einander wie zufällig zu begegnen.
Leonard, warum gehst Du nicht dorthin zurück, ins Hudson Tal, nach Saratoga, nach Amerika? Du sagst, Amerika sei Dir fremd geworden, Du verstehst es nicht mehr, Du liebst es nicht einmal. Aber Du hast seit dreißig Jahren Heimweh, ich höre es in Deiner Stimme, wenn Du vom Hudson redest oder wenn Du sagst, wie sehr das Meer Dir fehlt. Ich spüre es, wenn ich Dich besuche, wie fehl am Platz Du Dich fühlst. Du rufst Dir seine Kindheitslandschaften wach, und es ist wie ein Besuch zu Hause. Der Hudson River an seinem Oberlauf, dort, wo er bereits ein gezähmter Fluß ist und sogar Inseln in seinem Bett stehenläßt. Du hast Dir dieses Haus auf dem Hang über der Donau gekauft, weil sie Dich da, kurz vor Budapest, an den Hudson bei Albany erinnert. Dort kann man von seinem Ufer den braunen Wellen und Kreiseln der Stromschnellen zusehen, wenn die tiefstehende Sonne Lichtfunken über das Wasser springen läßt.
Ich habe ein Foto von Dir, von dem ich nicht mehr genau weiß, wo ich es aufgenommen habe. Da sitzt Du auf einer ramponierten Parkbank an einem Flußufer, einem Stück Wiese mit tief herunterhängenden Weiden und einem schmalen Strand mit runden, vom Wasser abgeschliffenen Granitfelsen. Du schaust nicht in die Kamera, Du scheinst gar nicht zu merken, daß ich Dich durch die Linse beobachte. Du blickst auf das Wasser mit einer resignierten Traurigkeit. Ich habe überlegt, ob Du schon so grau und müde ausgesehen hast, als wir das letzte Mal zusammen am Hudsonufer in Poughkeepsie waren.
In Albany, nahe der Universität, eine halbe Stunde vom Hudson entfernt, war diese Galerie mit schlechter zeitgenössischer Kunst, Vernissagebesucher standen mit Weingläsern herum, und ich wollte gerade gehen, zum Fluß hinunter, bevor die Sonne unterging. In jeder Stadt suche ich das Wasser, um mich zu orientieren. Du kamst auf mich zu, feingliedrig, dunkelhaarig und aus heutiger Sicht unvorstellbar jung, verbeugtest Dich wie ein freundlicher Diplomat und sagtest, Welcome to America. Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist.
Jeder von uns beiden hat im Lauf der Jahre den anderen gefragt: Wäre es Dir lieber, wir wären aneinander vorbeigegangen unter den scheußlichen Bildern der Galerie in Albany? Aber manchmal bedarf es nur eines leichten Luftzugs, als sei das Leben ein Staubkorn in einer zugigen Gasse. Wir waren jung, voll Furcht und Erwartung, damals konnte von jeder zufälligen Begegnung die Zukunft abhängen. Du nahmst Deinen ganzen Mut zusammen, mich anzusprechen, und dann warst Du zu nervös, mir zuzuhören. Es war kein rechtes Gespräch, das wir führten, es war, als stünden wir in einem elektrischen Feld, in dem es darauf ankam, mit den richtigen Sätzen seine Haut zu retten. Deine unruhigen Augen suchten einen Fluchtweg, und es gelang ihnen erst, meinem Blick zu begegnen, als wir auf Dinge zu sprechen kamen, bei denen Du Dich auskanntest. Während Du mir mit lebhafter Intensität von Deiner Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville erzähltest und Deine Nervosität vergaßt, sah ich, daß Du sanfte graugrüne Augen mit langen, gebogenen Wimpern hattest und daß die Knochen unter Deinem ein wenig zur Pausbäckigkeit neigenden Gesicht fein wie die Linien einer Alabastergemme waren.
Wußten Sie, daß Herman Melville als Jugendlicher in der Market Street, zwei Straßen weiter westlich von hier gewohnt hat, fragtest Du mich unvermittelt, und auf meinen erstaunten Blick erklärtest Du: Vor drei Wochen habe ich meine Dissertation über Außenseiter in seinem Prosawerk eingereicht.
So begann unser erstes Gespräch.
Warum über Außenseiter? fragte ich, und schon war meine Bereitschaft, Dich zu bestaunen, geweckt. Als hätten wir damals die geringste Ahnung gehabt, wovon wir redeten. Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung. Wie leicht es uns damals fiel, über Dinge zu reden, die andere schon gedacht und aufgeschrieben hatten.
Aber da muß eine Ahnung gewesen sein, etwas wie ein Schatten am Ende des Weges, eine atmosphärische Verdichtung, die uns neugierig machte und anzog. Vom Ende her paßt alles ineinander wie die Teile der vielen Puzzles, die unser Sohn später mit so viel Leidenschaft legen sollte, lange bevor er die Welt um sich herum verstand. Auch er gehörte von Anfang an zu diesem komplizierten Muster, das sich um uns schloß, als wären wir die verborgenen Figuren in einem Suchbild.
Du gabst mir Deine Dissertation bald darauf zum Lesen, warfst Dich in Pose und deklamiertest einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz. Ist das nicht genial? riefst Du begeistert. Du warst damals von Deiner Klugheit sehr überzeugt.
Was hat Melville außer »Moby Dick« noch geschrieben, erkundigte ich mich.
Wer nie versagt hat, dem fehlt es an Größe, entgegnetest Du mit einem Zitat statt mit Buchtiteln. Dann recktest Du ein wenig kokett das Kinn, wie Du es jedesmal vor der Kamera machst, als wolltest Du fragen, was sagst du nun dazu. Das schrieb er als Dreißigjähriger, belehrtest Du mich, das muß man sich vorstellen.
Du hattest manchmal eine an Pedanterie grenzende Ernsthaftigkeit an Dir, die mich irritierte, und zugleich etwas Widerspenstiges, das mich anzog. Wir waren beide so voller Unsicherheiten und versuchten sie mit prahlerischem Selbstbewußtsein zu überspielen.
Und wie alt sind Sie? fragtest Du unvermittelt, als erwartetest Du, daß jeder ab einem bestimmten Alter mit Lebensweisheiten aufwarten müsse.
Ich sagte, noch nicht alt genug für Aphorismen. Wir lachten, und Du fandest einen Vorwand, mich zu berühren. Ich mochte
Deine verschmitzte Art, peinlichen Situationen und Sätzen mit Ironie die Spitze zu brechen.
Noch hätte ich mich verabschieden und gehen können, aber statt dessen folgte ich Dir auf die Straße und in ein Restaurant, wo ich zu Deinem Erstaunen ein Roastbeefsandwich mit Messer und Gabel traktierte. Und in den nächsten Tagen liefen wir uns ständig über den Weg, wir legten es beide darauf an, einander wie zufällig zu begegnen.
Unser Fluß war der Hudson River. Wir haben ihn in seiner ganzen Länge verfolgt, wir sind an beiden Ufern entlanggefahren, oft nah am Wasser, nie habe ich ihn anders gesehen als mächtig in seiner Breite und grau von den Schatten seiner bewaldeten Ufer, grau von dem Schlamm, den er von dem fruchtbaren Hügelland seines Oberlaufs mitnimmt. Wir sind an seinen steinigen Ufern gesessen, jede Stadt an seinem Unterlauf hat ihre Parks mit Holztischen und Bänken für Picknicks, ihren Kinderschaukeln, Sandkisten und Abfallkübeln am Ufer, Irvington, Poughkeepsie, aber er ist kein Fluß, an dem man die Kinder allein spielen läßt, kein Fluß zum Baden, er ist ein fremder Riese auf der Durchreise, der kalt und streng seine Schneise durch die Berge schlägt, und nur selten spannen sich leicht gewölbte Brückenkonstruktionen über ihm aus, einschüchternde Stahlfesseln aus nächster Nähe, spinnwebenleichte Spitzenmuster aus der Ferne. Irgendwo zwischen Tarrytown und Irvington weitet der Hudson sich zum Meeresarm, verliert seine Strömung, drängt die Wälder zurück, und die Segelboote und Bojen tanzen auf seinem geriffelten Wasser, als gäbe es keinen Flußlauf mehr, nur diesen großen See zwischen den Felsen und der Metropole in der Ferne, unentschlossen, wohin er sich von der Strömung ziehen läßt. Als wohne man einem Unheil bei, so sieht man seinem Ende entgegen, die taubengraue Skyline von Manhattan steht am Horizont wie ein schwacher Damm. Das freie Auge kann nicht erkennen, wo sich das Salzwasser in den Schlammfluten auflöst und das Süßwasser sich mit dem Atlantik vermischt. Es ist kein abruptes Ende, es ist wie ein Aufgeben, als schwänden die Kräfte, die ihn zur Mündung treiben, und er ließe die salzigen Wassermassen des Atlantiks ohne Widerstand tief in sein weit offenes Bett. Auch der Tod eines Flusses ist furchterregend.
Leonard, warum gehst Du nicht dorthin zurück, ins Hudson Tal, nach Saratoga, nach Amerika? Du sagst, Amerika sei Dir fremd geworden, Du verstehst es nicht mehr, Du liebst es nicht einmal. Aber Du hast seit dreißig Jahren Heimweh, ich höre es in Deiner Stimme, wenn Du vom Hudson redest oder wenn Du sagst, wie sehr das Meer Dir fehlt. Ich spüre es, wenn ich Dich besuche, wie fehl am Platz Du Dich fühlst. Du rufst Dir seine Kindheitslandschaften wach, und es ist wie ein Besuch zu Hause. Der Hudson River an seinem Oberlauf, dort, wo er bereits ein gezähmter Fluß ist und sogar Inseln in seinem Bett stehenläßt. Du hast Dir dieses Haus auf dem Hang über der Donau gekauft, weil sie Dich da, kurz vor Budapest, an den Hudson bei Albany erinnert. Dort kann man von seinem Ufer den braunen Wellen und Kreiseln der Stromschnellen zusehen, wenn die tiefstehende Sonne Lichtfunken über das Wasser springen läßt.
Ich habe ein Foto von Dir, von dem ich nicht mehr genau weiß, wo ich es aufgenommen habe. Da sitzt Du auf einer ramponierten Parkbank an einem Flußufer, einem Stück Wiese mit tief herunterhängenden Weiden und einem schmalen Strand mit runden, vom Wasser abgeschliffenen Granitfelsen. Du schaust nicht in die Kamera, Du scheinst gar nicht zu merken, daß ich Dich durch die Linse beobachte. Du blickst auf das Wasser mit einer resignierten Traurigkeit. Ich habe überlegt, ob Du schon so grau und müde ausgesehen hast, als wir das letzte Mal zusammen am Hudsonufer in Poughkeepsie waren.
In Albany, nahe der Universität, eine halbe Stunde vom Hudson entfernt, war diese Galerie mit schlechter zeitgenössischer Kunst, Vernissagebesucher standen mit Weingläsern herum, und ich wollte gerade gehen, zum Fluß hinunter, bevor die Sonne unterging. In jeder Stadt suche ich das Wasser, um mich zu orientieren. Du kamst auf mich zu, feingliedrig, dunkelhaarig und aus heutiger Sicht unvorstellbar jung, verbeugtest Dich wie ein freundlicher Diplomat und sagtest, Welcome to America. Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist.
Jeder von uns beiden hat im Lauf der Jahre den anderen gefragt: Wäre es Dir lieber, wir wären aneinander vorbeigegangen unter den scheußlichen Bildern der Galerie in Albany? Aber manchmal bedarf es nur eines leichten Luftzugs, als sei das Leben ein Staubkorn in einer zugigen Gasse. Wir waren jung, voll Furcht und Erwartung, damals konnte von jeder zufälligen Begegnung die Zukunft abhängen. Du nahmst Deinen ganzen Mut zusammen, mich anzusprechen, und dann warst Du zu nervös, mir zuzuhören. Es war kein rechtes Gespräch, das wir führten, es war, als stünden wir in einem elektrischen Feld, in dem es darauf ankam, mit den richtigen Sätzen seine Haut zu retten. Deine unruhigen Augen suchten einen Fluchtweg, und es gelang ihnen erst, meinem Blick zu begegnen, als wir auf Dinge zu sprechen kamen, bei denen Du Dich auskanntest. Während Du mir mit lebhafter Intensität von Deiner Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville erzähltest und Deine Nervosität vergaßt, sah ich, daß Du sanfte graugrüne Augen mit langen, gebogenen Wimpern hattest und daß die Knochen unter Deinem ein wenig zur Pausbäckigkeit neigenden Gesicht fein wie die Linien einer Alabastergemme waren.
Wußten Sie, daß Herman Melville als Jugendlicher in der Market Street, zwei Straßen weiter westlich von hier gewohnt hat, fragtest Du mich unvermittelt, und auf meinen erstaunten Blick erklärtest Du: Vor drei Wochen habe ich meine Dissertation über Außenseiter in seinem Prosawerk eingereicht.
So begann unser erstes Gespräch.
Warum über Außenseiter? fragte ich, und schon war meine Bereitschaft, Dich zu bestaunen, geweckt. Als hätten wir damals die geringste Ahnung gehabt, wovon wir redeten. Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung. Wie leicht es uns damals fiel, über Dinge zu reden, die andere schon gedacht und aufgeschrieben hatten.
Aber da muß eine Ahnung gewesen sein, etwas wie ein Schatten am Ende des Weges, eine atmosphärische Verdichtung, die uns neugierig machte und anzog. Vom Ende her paßt alles ineinander wie die Teile der vielen Puzzles, die unser Sohn später mit so viel Leidenschaft legen sollte, lange bevor er die Welt um sich herum verstand. Auch er gehörte von Anfang an zu diesem komplizierten Muster, das sich um uns schloß, als wären wir die verborgenen Figuren in einem Suchbild.
Du gabst mir Deine Dissertation bald darauf zum Lesen, warfst Dich in Pose und deklamiertest einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz. Ist das nicht genial? riefst Du begeistert. Du warst damals von Deiner Klugheit sehr überzeugt.
Was hat Melville außer »Moby Dick« noch geschrieben, erkundigte ich mich.
Wer nie versagt hat, dem fehlt es an Größe, entgegnetest Du mit einem Zitat statt mit Buchtiteln. Dann recktest Du ein wenig kokett das Kinn, wie Du es jedesmal vor der Kamera machst, als wolltest Du fragen, was sagst du nun dazu. Das schrieb er als Dreißigjähriger, belehrtest Du mich, das muß man sich vorstellen.
Du hattest manchmal eine an Pedanterie grenzende Ernsthaftigkeit an Dir, die mich irritierte, und zugleich etwas Widerspenstiges, das mich anzog. Wir waren beide so voller Unsicherheiten und versuchten sie mit prahlerischem Selbstbewußtsein zu überspielen.
Und wie alt sind Sie? fragtest Du unvermittelt, als erwartetest Du, daß jeder ab einem bestimmten Alter mit Lebensweisheiten aufwarten müsse.
Ich sagte, noch nicht alt genug für Aphorismen. Wir lachten, und Du fandest einen Vorwand, mich zu berühren. Ich mochte
Deine verschmitzte Art, peinlichen Situationen und Sätzen mit Ironie die Spitze zu brechen.
Noch hätte ich mich verabschieden und gehen können, aber statt dessen folgte ich Dir auf die Straße und in ein Restaurant, wo ich zu Deinem Erstaunen ein Roastbeefsandwich mit Messer und Gabel traktierte. Und in den nächsten Tagen liefen wir uns ständig über den Weg, wir legten es beide darauf an, einander wie zufällig zu begegnen.
Leonard, warum gehst Du nicht dorthin zurück, ins Hudson Tal, nach Saratoga, nach Amerika? Du sagst, Amerika sei Dir fremd geworden, Du verstehst es nicht mehr, Du liebst es nicht einmal. Aber Du hast seit dreißig Jahren Heimweh, ich höre es in Deiner Stimme, wenn Du vom Hudson redest oder wenn Du sagst, wie sehr das Meer Dir fehlt. Ich spüre es, wenn ich Dich besuche, wie fehl am Platz Du Dich fühlst. Du rufst Dir seine Kindheitslandschaften wach, und es ist wie ein Besuch zu Hause. Der Hudson River an seinem Oberlauf, dort, wo er bereits ein gezähmter Fluß ist und sogar Inseln in seinem Bett stehenläßt. Du hast Dir dieses Haus auf dem Hang über der Donau gekauft, weil sie Dich da, kurz vor Budapest, an den Hudson bei Albany erinnert. Dort kann man von seinem Ufer den braunen Wellen und Kreiseln der Stromschnellen zusehen, wenn die tiefstehende Sonne Lichtfunken über das Wasser springen läßt.
Ich habe ein Foto von Dir, von dem ich nicht mehr genau weiß, wo ich es aufgenommen habe. Da sitzt Du auf einer ramponierten Parkbank an einem Flußufer, einem Stück Wiese mit tief herunterhängenden Weiden und einem schmalen Strand mit runden, vom Wasser abgeschliffenen Granitfelsen. Du schaust nicht in die Kamera, Du scheinst gar nicht zu merken, daß ich Dich durch die Linse beobachte. Du blickst auf das Wasser mit einer resignierten Traurigkeit. Ich habe überlegt, ob Du schon so grau und müde ausgesehen hast, als wir das letzte Mal zusammen am Hudsonufer in Poughkeepsie waren.
In Albany, nahe der Universität, eine halbe Stunde vom Hudson entfernt, war diese Galerie mit schlechter zeitgenössischer Kunst, Vernissagebesucher standen mit Weingläsern herum, und ich wollte gerade gehen, zum Fluß hinunter, bevor die Sonne unterging. In jeder Stadt suche ich das Wasser, um mich zu orientieren. Du kamst auf mich zu, feingliedrig, dunkelhaarig und aus heutiger Sicht unvorstellbar jung, verbeugtest Dich wie ein freundlicher Diplomat und sagtest, Welcome to America. Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist.
Jeder von uns beiden hat im Lauf der Jahre den anderen gefragt: Wäre es Dir lieber, wir wären aneinander vorbeigegangen unter den scheußlichen Bildern der Galerie in Albany? Aber manchmal bedarf es nur eines leichten Luftzugs, als sei das Leben ein Staubkorn in einer zugigen Gasse. Wir waren jung, voll Furcht und Erwartung, damals konnte von jeder zufälligen Begegnung die Zukunft abhängen. Du nahmst Deinen ganzen Mut zusammen, mich anzusprechen, und dann warst Du zu nervös, mir zuzuhören. Es war kein rechtes Gespräch, das wir führten, es war, als stünden wir in einem elektrischen Feld, in dem es darauf ankam, mit den richtigen Sätzen seine Haut zu retten. Deine unruhigen Augen suchten einen Fluchtweg, und es gelang ihnen erst, meinem Blick zu begegnen, als wir auf Dinge zu sprechen kamen, bei denen Du Dich auskanntest. Während Du mir mit lebhafter Intensität von Deiner Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville erzähltest und Deine Nervosität vergaßt, sah ich, daß Du sanfte graugrüne Augen mit langen, gebogenen Wimpern hattest und daß die Knochen unter Deinem ein wenig zur Pausbäckigkeit neigenden Gesicht fein wie die Linien einer Alabastergemme waren.
Wußten Sie, daß Herman Melville als Jugendlicher in der Market Street, zwei Straßen weiter westlich von hier gewohnt hat, fragtest Du mich unvermittelt, und auf meinen erstaunten Blick erklärtest Du: Vor drei Wochen habe ich meine Dissertation über Außenseiter in seinem Prosawerk eingereicht.
So begann unser erstes Gespräch.
Warum über Außenseiter? fragte ich, und schon war meine Bereitschaft, Dich zu bestaunen, geweckt. Als hätten wir damals die geringste Ahnung gehabt, wovon wir redeten. Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung. Wie leicht es uns damals fiel, über Dinge zu reden, die andere schon gedacht und aufgeschrieben hatten.
Aber da muß eine Ahnung gewesen sein, etwas wie ein Schatten am Ende des Weges, eine atmosphärische Verdichtung, die uns neugierig machte und anzog. Vom Ende her paßt alles ineinander wie die Teile der vielen Puzzles, die unser Sohn später mit so viel Leidenschaft legen sollte, lange bevor er die Welt um sich herum verstand. Auch er gehörte von Anfang an zu diesem komplizierten Muster, das sich um uns schloß, als wären wir die verborgenen Figuren in einem Suchbild.
Du gabst mir Deine Dissertation bald darauf zum Lesen, warfst Dich in Pose und deklamiertest einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz. Ist das nicht genial? riefst Du begeistert. Du warst damals von Deiner Klugheit sehr überzeugt.
Was hat Melville außer »Moby Dick« noch geschrieben, erkundigte ich mich.
Wer nie versagt hat, dem fehlt es an Größe, entgegnetest Du mit einem Zitat statt mit Buchtiteln. Dann recktest Du ein wenig kokett das Kinn, wie Du es jedesmal vor der Kamera machst, als wolltest Du fragen, was sagst du nun dazu. Das schrieb er als Dreißigjähriger, belehrtest Du mich, das muß man sich vorstellen.
Du hattest manchmal eine an Pedanterie grenzende Ernsthaftigkeit an Dir, die mich irritierte, und zugleich etwas Widerspenstiges, das mich anzog. Wir waren beide so voller Unsicherheiten und versuchten sie mit prahlerischem Selbstbewußtsein zu überspielen.
Und wie alt sind Sie? fragtest Du unvermittelt, als erwartetest Du, daß jeder ab einem bestimmten Alter mit Lebensweisheiten aufwarten müsse.
Ich sagte, noch nicht alt genug für Aphorismen. Wir lachten, und Du fandest einen Vorwand, mich zu berühren. Ich mochte
Deine verschmitzte Art, peinlichen Situationen und Sätzen mit Ironie die Spitze zu brechen.
Noch hätte ich mich verabschieden und gehen können, aber statt dessen folgte ich Dir auf die Straße und in ein Restaurant, wo ich zu Deinem Erstaunen ein Roastbeefsandwich mit Messer und Gabel traktierte. Und in den nächsten Tagen liefen wir uns ständig über den Weg, wir legten es beide darauf an, einander wie zufällig zu begegnen.
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 352 S. |
ISBN-13: | 9783442738441 |
ISBN-10: | 344273844X |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Mitgutsch, Anna |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 188 x 118 x 27 mm |
Von/Mit: | Anna Mitgutsch |
Erscheinungsdatum: | 03.11.2008 |
Gewicht: | 0,321 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 352 S. |
ISBN-13: | 9783442738441 |
ISBN-10: | 344273844X |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Mitgutsch, Anna |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 188 x 118 x 27 mm |
Von/Mit: | Anna Mitgutsch |
Erscheinungsdatum: | 03.11.2008 |
Gewicht: | 0,321 kg |
Warnhinweis