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Beschreibung
13. März 1990
Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen.
Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. "Ich" bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. "Im Libanon ums Leben gekommen". Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: "L" schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt.
An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht. Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen. Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. "Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht ... im Libanon ums Leben gekommen". Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in "Liberation" nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht.
Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen.
Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. "Ich" bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. "Im Libanon ums Leben gekommen". Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: "L" schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt.
An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht. Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen. Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. "Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht ... im Libanon ums Leben gekommen". Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in "Liberation" nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht.
13. März 1990
Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen.
Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. "Ich" bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. "Im Libanon ums Leben gekommen". Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: "L" schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt.
An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht. Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen. Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. "Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht ... im Libanon ums Leben gekommen". Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in "Liberation" nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht.
Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen.
Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. "Ich" bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. "Im Libanon ums Leben gekommen". Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: "L" schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt.
An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht. Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen. Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. "Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht ... im Libanon ums Leben gekommen". Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in "Liberation" nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht.
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 176 S. |
ISBN-13: | 9783442738168 |
ISBN-10: | 3442738164 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Kuckart, Judith |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 186 x 119 x 15 mm |
Von/Mit: | Judith Kuckart |
Erscheinungsdatum: | 03.03.2008 |
Gewicht: | 0,17 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 176 S. |
ISBN-13: | 9783442738168 |
ISBN-10: | 3442738164 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Kuckart, Judith |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 186 x 119 x 15 mm |
Von/Mit: | Judith Kuckart |
Erscheinungsdatum: | 03.03.2008 |
Gewicht: | 0,17 kg |
Warnhinweis