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Über Literaturkritik
Buch von Marcel Reich-Ranicki
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Welche Aufgabe hat die Literaturkritik? Welche Funktion übt sie aus? Welche Rolle kommt ihr zu? An wen wendet sie sich? Was will sie erreichen?
Seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren werden diese Fragen in Deutschland gestellt und immer wieder mehr oder weniger erregt debattiert. Denn sie treffen ins Zentrum des literarischen Lebens – gestern wie heute. Daher büßen sie, sooft sie auch erörtert und beantwortet wurden, nichts von ihrer Aktualität ein.
Jene, die über diese Fragen diskutieren und diesmal besonders leidenschaftlich und bisweilen sogar unerbittlich, die vielen Schriftsteller, Leser und natürlich auch Kritiker, möchten wir an eine Arbeit von Marcel Reich-Ranicki erinnern. Vor vielen Jahren entstanden, ist sie gerade jetzt von besonderem Interesse und bestens geeignet, der Orientierung in den aktuellen Auseinandersetzungen zu dienen.
Der vorliegende Essay wurde 1970 als Einführung zu Reich-Ranickis Buch »Lauter Verrisse« geschrieben; der Band faßt Aufsätze über Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Peter Härtling, Günter Kunert, Anna Seghers, Martin Walser, Peter Weiss und andere zusammen. Der ursprüngliche Titel dieses Essays lautet: »Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland«. Die ersten beiden Absätze, die Auswahl und Gegenstand des Bandes »Lauter Verrisse« betreffen, wurden hier weggelassen. Davon abgesehen, wird der Text von 1970 unverändert nachgedruckt.
Deutsche Verlags-Anstalt, Juni 2002

Über Literaturkritik

I
Wann darf oder soll der Kritiker einen Autor verreißen? Fortwährend erscheinen miserable literarische Arbeiten. Wann lohnt es sich, in aller Öffentlichkeit zu erklären, warum man glaubt, daß ein bestimmtes Buch, das man für schlecht hält, schlecht sei? Was immer ein Kritiker gegen ein solches Buch sagt, er hat es doch wohl nicht zufällig aus einer Fülle ähnlicher ausgewählt; die anderen ignoriert er, auf dieses lenkt er, ob er es will oder nicht, die Aufmerksamkeit des Publikums. In welchen Fällen ist er dazu berechtigt oder sogar verpflichtet?

Verrisse – wozu eigentlich und für wen?
Die Beantwortung derartiger Fragen hängt vor allem von den Ansprüchen ab, die man an die Kritik überhaupt stellt. Und diese Ansprüche wiederum haben fast immer mit den Erwartungen zu tun, die man an die Literatur knüpft. Was auf den ersten Blick ein eher praktisches Problem im Alltag der Redakteure und Rezensenten scheint, rührt bei näherer Betrachtung unversehens an Fundamentales – an die Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur und an die Funktion der Kritik.

II
Wer sich über die Arbeit anderer öffentlich äußert und nicht alles schön und gut findet, bereitet manchen Schadenfreude, setzt sich aber sofort dem Verdacht aus, er sei ein hämischer Kerl, dem es Spaß mache, seinen Mitmenschen am Zeug zu flicken. Kritik, welchem Bereich des Lebens sie auch gelten mag, ruft mit dem Zweifel an ihrer Berechtigung zugleich die Frage hervor, was denn den Kritisierenden, gerade ihn, befuge, über die Leistungen anderer zu urteilen.
Daß die erste Reaktion auf die Kritik in der Regel defensiv ist, scheint indes keineswegs verwunderlich; und diese Reaktion ist nicht bloß für einzelne Länder charakteristisch oder nur für bestimmte Epochen. Überall, also auch dort, wo man die Bedeutung der Kritik voll anerkennt und in ihr ein entscheidendes Element jeglichen geistigen Lebens sieht, begegnet man ihr mit einiger Empfindlichkeit, mit einem mehr oder weniger getarnten Unbehagen, nirgends ist das Verhältnis zu jenen, die kritisieren oder gar aus dem Kritisieren einen Beruf gemacht haben, frei von Ressentiments und Mißtrauen. »Genau wie es den reichsten Kandidaten jeden Heller kostet, den er wert ist, wenn er ein wahrer Bettler werden will, so wird es einen Menschen alle guten Eigenschaften seines Geistes kosten, ehe er beginnen kann, ein wahrer Kritiker zu werden; allerdings würde man das vielleicht auch bei einem geringeren Preis für einen nicht lohnenden Kauf halten« – meinte um 1700 Jonathan Swift.
Aber so gewiß Empfindlichkeiten und Mißtrauen gegen Kritik allgemeine und internationale Erscheinungen sind, so gewiß ist das Verhältnis der Deutschen zur Kritik von besonderer Art. Diese Frage, über die Historiker und Soziologen, Philosophen und Psychologen schon viel geschrieben haben, gehört offenbar zu jenen heiklen Themen, die ihre Aktualität und Dringlichkeit, wie immer die geschichtliche Entwicklung hierzulande verlief und verläuft, fatalerweise nicht einbüßen wollen. Vielleicht ist es nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang an ein Werk zu erinnern, das häufig genannt, beschimpft und zitiert und nur sehr selten gelesen wird – an Madame de Staëls zwischen 1808 und 1810 entstandenes Buch »De l´Allemagne«.
Trotz vieler unzweifelhaft apologetischer Partien, die auf französische Leser einen pädagogischen Einfluß ausüben sollten, entwirft Madame de Staël nun doch kein so einseitig-verherrlichendes Deutschlandbild, wie man ihr dies gern nachsagt. So behauptet sie in dem Kapitel »Über die Sitten und den Charakter der Deutschen«: »Die Liebe zur Freiheit ist bei den Deutschen nicht entwickelt. Sie haben weder durch ihren Genuß noch durch ihre Entbehrung den Wert kennengelernt, den man auf ihren Besitz legen kann.« Die Deutschen – heißt es weiter – »möchten, daß ihnen in bezug auf ihr Verhalten jeder einzelne Punkt vorgeschrieben werde ... Und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, selbständig einen Entschluß zu fassen, um so zufriedener sind sie ... Daher kommt es denn, daß sie die größte Gedankenkühnheit mit dem untertänigsten Charakter vereinen. Das Übergewicht des Militärstandes und die Rangunterschiede haben ihnen in gesellschaftlicher Beziehung die größte Untertänigkeit zur Gewohnheit gemacht ... Sie sind in der Ausführung jedes erhaltenen Befehls so gewissenhaft, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre.«
Auch das, was sich in dem Kapitel »Über den Einfluß der neuen Philosophie auf den Charakter der Deutschen« findet, kann schwerlich als schmeichelhaft gelten: »Leider muß man bekennen, daß die Deutschen der Jetztzeit das, was man Charakter nennt, nicht besitzen. Sie sind als Privatleute, als Familienväter, als Beamte tugendhaft und von unbestechlicher Redlichkeit; ihr gefälliger und zuvorkommender Diensteifer gegen die Macht aber schmerzt, besonders wenn man sie liebt ...« Nicht ohne Spott bemerkt Madame de Staël, daß sich die Deutschen »philosophischer Gründe bedienen, um das auseinanderzusetzen, was am wenigsten philosophisch ist: die Achtung vor der Macht und die Gewöhnung an die Furcht, die diese Achtung in Begeisterung verwandelt.«
Nationale Verallgemeinerungen haben schon zuviel Unheil angerichtet, als daß wir sie ohne Skepsis hinnehmen könnten. Dennoch fällt es schwer, Madame de Staël zu widersprechen. Und diese jedenfalls nicht abwegigen Beobachtungen aus den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts weisen zugleich auf die Faktoren hin, die das öffentliche Bewußtsein in Deutschland bestimmt und zu einer prononciert antikritischen Tendenz geführt haben – auf jene Mentalität also, die wir gemeinhin als Untertanengesinnung und Obrigkeitsdenken bezeichnen.
Es liegt auf der Hand, daß der Untertanenstaat die Kritik, in welcher Form auch immer, als etwas Überflüssiges und Lästiges empfand, daß er sie bekämpfte und womöglich ganz zu verhindern suchte und daher die Kritisierenden zu verketzern bemüht war: Wo man Unterordnung und Ergebenheit fordert und den Gehorsam und die Gefolgschaft verherrlicht, wird das selbständige Denken sogleich zum Ärgernis, wo Befehle gelten sollen, muß sich die Kritik als gefährlicher Störfaktor erweisen. Mit anderen Worten: Freiheit und Kritik bedingen sich gegenseitig. Wie es also keine Freiheit ohne Kritik geben kann, so kann auch die Kritik nicht ohne die Freiheit existieren.
Nicht weniger augenscheinlich ist es wohl, daß zwischen der verspäteten Entwicklung des deutschen Bürgertums und der damit zusammenhängenden verspäteten Einführung der Demokratie in Deutschland einerseits und der antikritischen Mentalität und Einstellung der Öffentlichkeit andererseits eine unmittelbare Wechselbeziehung besteht. Demokratie wird durch Kritik geradezu definiert, da ja die allen Demokratien nach wie vor zugrunde liegende Konzeption der Gewaltenteilung nichts anderes besagt, als »daß jeweils die eine dieser Gewalten an der anderen Kritik übt und dadurch die Willkür einschränkt, zu der eine jegliche, ohne jenes kritische Element, tendiert«.
Adorno, der daran in einer seiner letzten Arbeiten erinnerte, wies zugleich auf die Folgen hin, die die hinter der Geschichte herhinkende nationalstaatliche Einigung Deutschlands für die Kritikfeindschaft hatte: Sie wurde im Kaiserreich eher noch gesteigert, weil »das deutsche Einheits- und Einigkeitstrauma ... in jener Vielheit, deren Resultante demokratische Willensbildung ist, Schwäche wittert. Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisationen hinauswill. Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«
Wer sich einreden will, daß – nach einem Wort Emanuel Geibels aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts – am deutschen Wesen die Welt genesen konnte und sogar sollte (und viele Deutsche haben daran offenbar aufrichtig geglaubt), der mochte von Kritik nichts hören und war rasch bereit, die Kritisierenden für üble Querulanten, permanente Spielverderber und ekelhafte Parasiten zu halten. Mehr noch: Sie gerieten im allgemeinen Bewußtsein oft genug in die Nähe von Verrätern und Volksfeinden. Es entstand eine einigermaßen groteske Situation: Im Land, dessen hervorragendster Philosoph das Wort »Kritik« schon in den Titeln seiner Hauptwerke verwendete, wurde die kritische Einstellung allen Ernstes und mit Erfolg als undeutsch, als etwas Fremdartiges diffamiert.
So konnte es geschehen, daß die Abschaffung der Kritik durch den Nationalsozialismus bei...
Welche Aufgabe hat die Literaturkritik? Welche Funktion übt sie aus? Welche Rolle kommt ihr zu? An wen wendet sie sich? Was will sie erreichen?
Seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren werden diese Fragen in Deutschland gestellt und immer wieder mehr oder weniger erregt debattiert. Denn sie treffen ins Zentrum des literarischen Lebens – gestern wie heute. Daher büßen sie, sooft sie auch erörtert und beantwortet wurden, nichts von ihrer Aktualität ein.
Jene, die über diese Fragen diskutieren und diesmal besonders leidenschaftlich und bisweilen sogar unerbittlich, die vielen Schriftsteller, Leser und natürlich auch Kritiker, möchten wir an eine Arbeit von Marcel Reich-Ranicki erinnern. Vor vielen Jahren entstanden, ist sie gerade jetzt von besonderem Interesse und bestens geeignet, der Orientierung in den aktuellen Auseinandersetzungen zu dienen.
Der vorliegende Essay wurde 1970 als Einführung zu Reich-Ranickis Buch »Lauter Verrisse« geschrieben; der Band faßt Aufsätze über Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Peter Härtling, Günter Kunert, Anna Seghers, Martin Walser, Peter Weiss und andere zusammen. Der ursprüngliche Titel dieses Essays lautet: »Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland«. Die ersten beiden Absätze, die Auswahl und Gegenstand des Bandes »Lauter Verrisse« betreffen, wurden hier weggelassen. Davon abgesehen, wird der Text von 1970 unverändert nachgedruckt.
Deutsche Verlags-Anstalt, Juni 2002

Über Literaturkritik

I
Wann darf oder soll der Kritiker einen Autor verreißen? Fortwährend erscheinen miserable literarische Arbeiten. Wann lohnt es sich, in aller Öffentlichkeit zu erklären, warum man glaubt, daß ein bestimmtes Buch, das man für schlecht hält, schlecht sei? Was immer ein Kritiker gegen ein solches Buch sagt, er hat es doch wohl nicht zufällig aus einer Fülle ähnlicher ausgewählt; die anderen ignoriert er, auf dieses lenkt er, ob er es will oder nicht, die Aufmerksamkeit des Publikums. In welchen Fällen ist er dazu berechtigt oder sogar verpflichtet?

Verrisse – wozu eigentlich und für wen?
Die Beantwortung derartiger Fragen hängt vor allem von den Ansprüchen ab, die man an die Kritik überhaupt stellt. Und diese Ansprüche wiederum haben fast immer mit den Erwartungen zu tun, die man an die Literatur knüpft. Was auf den ersten Blick ein eher praktisches Problem im Alltag der Redakteure und Rezensenten scheint, rührt bei näherer Betrachtung unversehens an Fundamentales – an die Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur und an die Funktion der Kritik.

II
Wer sich über die Arbeit anderer öffentlich äußert und nicht alles schön und gut findet, bereitet manchen Schadenfreude, setzt sich aber sofort dem Verdacht aus, er sei ein hämischer Kerl, dem es Spaß mache, seinen Mitmenschen am Zeug zu flicken. Kritik, welchem Bereich des Lebens sie auch gelten mag, ruft mit dem Zweifel an ihrer Berechtigung zugleich die Frage hervor, was denn den Kritisierenden, gerade ihn, befuge, über die Leistungen anderer zu urteilen.
Daß die erste Reaktion auf die Kritik in der Regel defensiv ist, scheint indes keineswegs verwunderlich; und diese Reaktion ist nicht bloß für einzelne Länder charakteristisch oder nur für bestimmte Epochen. Überall, also auch dort, wo man die Bedeutung der Kritik voll anerkennt und in ihr ein entscheidendes Element jeglichen geistigen Lebens sieht, begegnet man ihr mit einiger Empfindlichkeit, mit einem mehr oder weniger getarnten Unbehagen, nirgends ist das Verhältnis zu jenen, die kritisieren oder gar aus dem Kritisieren einen Beruf gemacht haben, frei von Ressentiments und Mißtrauen. »Genau wie es den reichsten Kandidaten jeden Heller kostet, den er wert ist, wenn er ein wahrer Bettler werden will, so wird es einen Menschen alle guten Eigenschaften seines Geistes kosten, ehe er beginnen kann, ein wahrer Kritiker zu werden; allerdings würde man das vielleicht auch bei einem geringeren Preis für einen nicht lohnenden Kauf halten« – meinte um 1700 Jonathan Swift.
Aber so gewiß Empfindlichkeiten und Mißtrauen gegen Kritik allgemeine und internationale Erscheinungen sind, so gewiß ist das Verhältnis der Deutschen zur Kritik von besonderer Art. Diese Frage, über die Historiker und Soziologen, Philosophen und Psychologen schon viel geschrieben haben, gehört offenbar zu jenen heiklen Themen, die ihre Aktualität und Dringlichkeit, wie immer die geschichtliche Entwicklung hierzulande verlief und verläuft, fatalerweise nicht einbüßen wollen. Vielleicht ist es nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang an ein Werk zu erinnern, das häufig genannt, beschimpft und zitiert und nur sehr selten gelesen wird – an Madame de Staëls zwischen 1808 und 1810 entstandenes Buch »De l´Allemagne«.
Trotz vieler unzweifelhaft apologetischer Partien, die auf französische Leser einen pädagogischen Einfluß ausüben sollten, entwirft Madame de Staël nun doch kein so einseitig-verherrlichendes Deutschlandbild, wie man ihr dies gern nachsagt. So behauptet sie in dem Kapitel »Über die Sitten und den Charakter der Deutschen«: »Die Liebe zur Freiheit ist bei den Deutschen nicht entwickelt. Sie haben weder durch ihren Genuß noch durch ihre Entbehrung den Wert kennengelernt, den man auf ihren Besitz legen kann.« Die Deutschen – heißt es weiter – »möchten, daß ihnen in bezug auf ihr Verhalten jeder einzelne Punkt vorgeschrieben werde ... Und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, selbständig einen Entschluß zu fassen, um so zufriedener sind sie ... Daher kommt es denn, daß sie die größte Gedankenkühnheit mit dem untertänigsten Charakter vereinen. Das Übergewicht des Militärstandes und die Rangunterschiede haben ihnen in gesellschaftlicher Beziehung die größte Untertänigkeit zur Gewohnheit gemacht ... Sie sind in der Ausführung jedes erhaltenen Befehls so gewissenhaft, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre.«
Auch das, was sich in dem Kapitel »Über den Einfluß der neuen Philosophie auf den Charakter der Deutschen« findet, kann schwerlich als schmeichelhaft gelten: »Leider muß man bekennen, daß die Deutschen der Jetztzeit das, was man Charakter nennt, nicht besitzen. Sie sind als Privatleute, als Familienväter, als Beamte tugendhaft und von unbestechlicher Redlichkeit; ihr gefälliger und zuvorkommender Diensteifer gegen die Macht aber schmerzt, besonders wenn man sie liebt ...« Nicht ohne Spott bemerkt Madame de Staël, daß sich die Deutschen »philosophischer Gründe bedienen, um das auseinanderzusetzen, was am wenigsten philosophisch ist: die Achtung vor der Macht und die Gewöhnung an die Furcht, die diese Achtung in Begeisterung verwandelt.«
Nationale Verallgemeinerungen haben schon zuviel Unheil angerichtet, als daß wir sie ohne Skepsis hinnehmen könnten. Dennoch fällt es schwer, Madame de Staël zu widersprechen. Und diese jedenfalls nicht abwegigen Beobachtungen aus den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts weisen zugleich auf die Faktoren hin, die das öffentliche Bewußtsein in Deutschland bestimmt und zu einer prononciert antikritischen Tendenz geführt haben – auf jene Mentalität also, die wir gemeinhin als Untertanengesinnung und Obrigkeitsdenken bezeichnen.
Es liegt auf der Hand, daß der Untertanenstaat die Kritik, in welcher Form auch immer, als etwas Überflüssiges und Lästiges empfand, daß er sie bekämpfte und womöglich ganz zu verhindern suchte und daher die Kritisierenden zu verketzern bemüht war: Wo man Unterordnung und Ergebenheit fordert und den Gehorsam und die Gefolgschaft verherrlicht, wird das selbständige Denken sogleich zum Ärgernis, wo Befehle gelten sollen, muß sich die Kritik als gefährlicher Störfaktor erweisen. Mit anderen Worten: Freiheit und Kritik bedingen sich gegenseitig. Wie es also keine Freiheit ohne Kritik geben kann, so kann auch die Kritik nicht ohne die Freiheit existieren.
Nicht weniger augenscheinlich ist es wohl, daß zwischen der verspäteten Entwicklung des deutschen Bürgertums und der damit zusammenhängenden verspäteten Einführung der Demokratie in Deutschland einerseits und der antikritischen Mentalität und Einstellung der Öffentlichkeit andererseits eine unmittelbare Wechselbeziehung besteht. Demokratie wird durch Kritik geradezu definiert, da ja die allen Demokratien nach wie vor zugrunde liegende Konzeption der Gewaltenteilung nichts anderes besagt, als »daß jeweils die eine dieser Gewalten an der anderen Kritik übt und dadurch die Willkür einschränkt, zu der eine jegliche, ohne jenes kritische Element, tendiert«.
Adorno, der daran in einer seiner letzten Arbeiten erinnerte, wies zugleich auf die Folgen hin, die die hinter der Geschichte herhinkende nationalstaatliche Einigung Deutschlands für die Kritikfeindschaft hatte: Sie wurde im Kaiserreich eher noch gesteigert, weil »das deutsche Einheits- und Einigkeitstrauma ... in jener Vielheit, deren Resultante demokratische Willensbildung ist, Schwäche wittert. Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisationen hinauswill. Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«
Wer sich einreden will, daß – nach einem Wort Emanuel Geibels aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts – am deutschen Wesen die Welt genesen konnte und sogar sollte (und viele Deutsche haben daran offenbar aufrichtig geglaubt), der mochte von Kritik nichts hören und war rasch bereit, die Kritisierenden für üble Querulanten, permanente Spielverderber und ekelhafte Parasiten zu halten. Mehr noch: Sie gerieten im allgemeinen Bewußtsein oft genug in die Nähe von Verrätern und Volksfeinden. Es entstand eine einigermaßen groteske Situation: Im Land, dessen hervorragendster Philosoph das Wort »Kritik« schon in den Titeln seiner Hauptwerke verwendete, wurde die kritische Einstellung allen Ernstes und mit Erfolg als undeutsch, als etwas Fremdartiges diffamiert.
So konnte es geschehen, daß die Abschaffung der Kritik durch den Nationalsozialismus bei...
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Genre: Geisteswissenschaften, Kunst, Musik
Medium: Buch
Inhalt: 80 S.
ISBN-13: 9783421056757
ISBN-10: 3421056757
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Reich-Ranicki, Marcel
Hersteller: DVA Deutsche Verlags-Anstalt GmbH
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Verantwortliche Person für die EU: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, D-81673 München, produktsicherheit@penguinrandomhouse.de
Maße: 190 x 120 x 10 mm
Von/Mit: Marcel Reich-Ranicki
Erscheinungsdatum: 26.06.2002
Gewicht: 0,147 kg
Artikel-ID: 103525035
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Genre: Geisteswissenschaften, Kunst, Musik
Medium: Buch
Inhalt: 80 S.
ISBN-13: 9783421056757
ISBN-10: 3421056757
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Reich-Ranicki, Marcel
Hersteller: DVA Deutsche Verlags-Anstalt GmbH
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Verantwortliche Person für die EU: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, D-81673 München, produktsicherheit@penguinrandomhouse.de
Maße: 190 x 120 x 10 mm
Von/Mit: Marcel Reich-Ranicki
Erscheinungsdatum: 26.06.2002
Gewicht: 0,147 kg
Artikel-ID: 103525035
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