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Beschreibung
Cocaine (...) Denen in Berlin hatte er nichts davon erzählt, sie sollten nicht neidisch werden. Wenn sie hinter seinem Rücken tuschelten, gut. Nur Neid musste er vermeiden, das hatte ihn schon einmal aus der Bahn geworfen, diese missgünstige Aufmerksamkeit, unter der er jedesmal hilflos zu zappeln begann wie ein eingefangenes Tier. Nicht, dass sie ihn wieder in eine Zelle sperren würden. Das war vorbei. Aber weniger Führungen würde es geben, weniger Geld, und Geld war der Passierschein, den er jetzt benötigte. Darüber gab es nichts zu klagen. Wann zuvor, sagte er sich, wäre es denn schon einem wie ihm vergönnt gewesen, jedes Jahr zwischen diesen ausladend verzierten, schneeweissen Balkonen und den kleinen Palmen- und Zypressengarten hinunter in Richtung Meer laufen zu dürfen, hinein in eine winzige Gasse namens Rue Spinetta' Keiner in Berlin wusste von ihrer Existenz, geschweige denn, was er sich hier ansah. Weder die Mitarbeiter in ihren hellbraunen Blousons, die ihn damals mitgeschleppt hatten, hochgezogen von dem Tisch vor der Toilette, an dem er saß und doch nichts weiter getan hatte, als zu rauchen, noch seine jetzigen Arbeitskollegen, die es damals besser oder ungleich schlimmer erwischt hatte, so dass sie nun auch viel klügere Führungen machen konnten - niemand, kein einziger ahnte etwas von den Geheimnissen der Rue Spinetta. Norbert Karuseit versuchte zu lächeln, hinein in den Trommelwirbel aus der DJ-Ecke, der den Rhythmus bestimmte, unter dem sich jetzt Rotkäppchen breitbeinig auf dem Bühnenstuhl bewegte und unter Seufzern mit einem aus dem Publikum herausgezogenen Jüngelchen den Anschein des Kopulierens erweckte. Er hasste seinen Namen. Weder ließ er sich fremdländisch aussprechen, so dass er eleganter geklungen hätte, noch schamhaft abkürzen. Wie eine Fo rke oder ein Koben bezeichnete er genau das, was er war. Karuseit, so hießen die Bewohner brandenburgischer Dörfer, unter fahlem Himmel geduckt, die, wenn sie aus dem Haus gingen, ihre Einkaufsbeutel wortlos und argwöhnisch ums Handgelenk schlangen, damit ihr karger Inhalt ja auch von keinem gesehen wurde; selbst jetzt noch, in der neuen Zeit der bunten Plastiktüten. Karuseit hießen Leute hinter Gardinen, Leute auf dem Feld, Leute unter der Erde, deren Schwere sie in ihrem Namen getragen hatten, ein ganzes stumm vor sich hin brütendes Leben lang, bis es schliesslich Zeit war für die Grabsteine auf dem Anger, Rabengekrächz, schwarzer Anzug und matschüberzogene Schuhe, Schnaps danach in der Dorfkneipe: Karuseit. Selbst wenn sie in die Städte kamen, Kopfsteinpflaster gegen Asphalt tauschten, änderte das nichts. Von den Männern, die er nachts im Schlafzimmer seiner Mutter gehört oder früh am Morgen am Küchentisch gesehen hatte, der Kopf auf den Ellenbogen gesunken, Schnarchgeräusche und dünner Speichel, war keiner sein Vater gewesen, alle trugen sie andere Namen. Und doch waren auch sie auf ihre Art Karuseits. Andererseits (das kleine Wortspiel gefiel ihm) konnte auch Cocaine nicht wirklich Cocaine heissen. War sie etwa immer geschminkt, jede Stunde des Tages im Abendanzug, bereit, im Vollplayback die roten Lippen zu öffnen und zu Dalida oder Gloria Gaynor zu werden' Monday, Tuesday - laissez-moi danser. Ob er sie danach fragen sollte' Zu spät. Es hatte keinen Sinn mehr. Jetzt, wo sie sich so erbärmlich wiederholt hatte. Am liebsten wäre er nach vorn auf die Bühne gestürmt und hätte ihr mitten ins Gesicht geschlagen, wahrscheinlich hielt ihn nur die Angst vor den Beurs zurück. Manchmal, bevor er in sein kleines Hotel am Bahnhof zurückgekehrt war, hatte sie auf einem Leder hocker vor der Bar gesessen, direkt gegenüber dem Eingang, um keinen der Neuankömmlinge zu verpassen. Einige erschienen erst nach dem Ende der Show, die sie anscheinend nicht mochten; zwar hatte er keines der Worte verstanden, die sie, zumeist Jüngere, miteinander wechselten, aber in ihren Gesten sah er Spott und eine Verachtung, die ihm weh tat. Cocaine jedoch thronte stoisch an der Bar, das massige Fleisch über den Hocker lappend, die beringten Wurstfinger um ein Weinglas geschlossen, ihr Blick unter schweren Lidern und gezupften, schwarz nachgezogenen Augenbrauen mit geradezu krokodilhafter Aufmerksamkeit im Raum umherwandernd. Man schien sie gut zu kennen. Es gab Witze und schrilles Lachen, dazu spendierte Drinks und mitunter auch eine Hand auf ihrem Minirock, den schwarzbestrumpften, schwammigen Schenkeln. Und doch waren die Blicke, die sie in den Momenten des Schweigens aussandte, weder spöttisch noch kokett, sondern, wie ihm schien, von solcher Sehnsucht, dass er sich jedesmal abrupt abwandte, wenn er ihren Blick auf sich spürte. Cocaine becirct um vier Uhr morgens Norbert Karuseit, wie absurd, das erinnerte ihn an die alternden Tunten in der Schoppenstube, damals in der Schönhauser Allee, das zerstörte alles, sein Nizza und den Grund seiner Reisen, das war verdammt noch mal zu nah und zu live. Nur raus hier, und kommentarlos hatte ihn jedesmal der Türsteher in die Sommernacht entlassen.
Cocaine (...) Denen in Berlin hatte er nichts davon erzählt, sie sollten nicht neidisch werden. Wenn sie hinter seinem Rücken tuschelten, gut. Nur Neid musste er vermeiden, das hatte ihn schon einmal aus der Bahn geworfen, diese missgünstige Aufmerksamkeit, unter der er jedesmal hilflos zu zappeln begann wie ein eingefangenes Tier. Nicht, dass sie ihn wieder in eine Zelle sperren würden. Das war vorbei. Aber weniger Führungen würde es geben, weniger Geld, und Geld war der Passierschein, den er jetzt benötigte. Darüber gab es nichts zu klagen. Wann zuvor, sagte er sich, wäre es denn schon einem wie ihm vergönnt gewesen, jedes Jahr zwischen diesen ausladend verzierten, schneeweissen Balkonen und den kleinen Palmen- und Zypressengarten hinunter in Richtung Meer laufen zu dürfen, hinein in eine winzige Gasse namens Rue Spinetta' Keiner in Berlin wusste von ihrer Existenz, geschweige denn, was er sich hier ansah. Weder die Mitarbeiter in ihren hellbraunen Blousons, die ihn damals mitgeschleppt hatten, hochgezogen von dem Tisch vor der Toilette, an dem er saß und doch nichts weiter getan hatte, als zu rauchen, noch seine jetzigen Arbeitskollegen, die es damals besser oder ungleich schlimmer erwischt hatte, so dass sie nun auch viel klügere Führungen machen konnten - niemand, kein einziger ahnte etwas von den Geheimnissen der Rue Spinetta. Norbert Karuseit versuchte zu lächeln, hinein in den Trommelwirbel aus der DJ-Ecke, der den Rhythmus bestimmte, unter dem sich jetzt Rotkäppchen breitbeinig auf dem Bühnenstuhl bewegte und unter Seufzern mit einem aus dem Publikum herausgezogenen Jüngelchen den Anschein des Kopulierens erweckte. Er hasste seinen Namen. Weder ließ er sich fremdländisch aussprechen, so dass er eleganter geklungen hätte, noch schamhaft abkürzen. Wie eine Fo rke oder ein Koben bezeichnete er genau das, was er war. Karuseit, so hießen die Bewohner brandenburgischer Dörfer, unter fahlem Himmel geduckt, die, wenn sie aus dem Haus gingen, ihre Einkaufsbeutel wortlos und argwöhnisch ums Handgelenk schlangen, damit ihr karger Inhalt ja auch von keinem gesehen wurde; selbst jetzt noch, in der neuen Zeit der bunten Plastiktüten. Karuseit hießen Leute hinter Gardinen, Leute auf dem Feld, Leute unter der Erde, deren Schwere sie in ihrem Namen getragen hatten, ein ganzes stumm vor sich hin brütendes Leben lang, bis es schliesslich Zeit war für die Grabsteine auf dem Anger, Rabengekrächz, schwarzer Anzug und matschüberzogene Schuhe, Schnaps danach in der Dorfkneipe: Karuseit. Selbst wenn sie in die Städte kamen, Kopfsteinpflaster gegen Asphalt tauschten, änderte das nichts. Von den Männern, die er nachts im Schlafzimmer seiner Mutter gehört oder früh am Morgen am Küchentisch gesehen hatte, der Kopf auf den Ellenbogen gesunken, Schnarchgeräusche und dünner Speichel, war keiner sein Vater gewesen, alle trugen sie andere Namen. Und doch waren auch sie auf ihre Art Karuseits. Andererseits (das kleine Wortspiel gefiel ihm) konnte auch Cocaine nicht wirklich Cocaine heissen. War sie etwa immer geschminkt, jede Stunde des Tages im Abendanzug, bereit, im Vollplayback die roten Lippen zu öffnen und zu Dalida oder Gloria Gaynor zu werden' Monday, Tuesday - laissez-moi danser. Ob er sie danach fragen sollte' Zu spät. Es hatte keinen Sinn mehr. Jetzt, wo sie sich so erbärmlich wiederholt hatte. Am liebsten wäre er nach vorn auf die Bühne gestürmt und hätte ihr mitten ins Gesicht geschlagen, wahrscheinlich hielt ihn nur die Angst vor den Beurs zurück. Manchmal, bevor er in sein kleines Hotel am Bahnhof zurückgekehrt war, hatte sie auf einem Leder hocker vor der Bar gesessen, direkt gegenüber dem Eingang, um keinen der Neuankömmlinge zu verpassen. Einige erschienen erst nach dem Ende der Show, die sie anscheinend nicht mochten; zwar hatte er keines der Worte verstanden, die sie, zumeist Jüngere, miteinander wechselten, aber in ihren Gesten sah er Spott und eine Verachtung, die ihm weh tat. Cocaine jedoch thronte stoisch an der Bar, das massige Fleisch über den Hocker lappend, die beringten Wurstfinger um ein Weinglas geschlossen, ihr Blick unter schweren Lidern und gezupften, schwarz nachgezogenen Augenbrauen mit geradezu krokodilhafter Aufmerksamkeit im Raum umherwandernd. Man schien sie gut zu kennen. Es gab Witze und schrilles Lachen, dazu spendierte Drinks und mitunter auch eine Hand auf ihrem Minirock, den schwarzbestrumpften, schwammigen Schenkeln. Und doch waren die Blicke, die sie in den Momenten des Schweigens aussandte, weder spöttisch noch kokett, sondern, wie ihm schien, von solcher Sehnsucht, dass er sich jedesmal abrupt abwandte, wenn er ihren Blick auf sich spürte. Cocaine becirct um vier Uhr morgens Norbert Karuseit, wie absurd, das erinnerte ihn an die alternden Tunten in der Schoppenstube, damals in der Schönhauser Allee, das zerstörte alles, sein Nizza und den Grund seiner Reisen, das war verdammt noch mal zu nah und zu live. Nur raus hier, und kommentarlos hatte ihn jedesmal der Türsteher in die Sommernacht entlassen.
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 381 S. |
ISBN-13: | 9783821862255 |
ISBN-10: | 3821862254 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Martin, Marko |
ab - die andere bibliothek gmbh & co. kg: | AB - Die andere Bibliothek GmbH & Co. KG |
Maße: | 220 x 130 x 30 mm |
Von/Mit: | Marko Martin |
Erscheinungsdatum: | 22.09.2009 |
Gewicht: | 0,589 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 381 S. |
ISBN-13: | 9783821862255 |
ISBN-10: | 3821862254 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Martin, Marko |
ab - die andere bibliothek gmbh & co. kg: | AB - Die andere Bibliothek GmbH & Co. KG |
Maße: | 220 x 130 x 30 mm |
Von/Mit: | Marko Martin |
Erscheinungsdatum: | 22.09.2009 |
Gewicht: | 0,589 kg |
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