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Beschreibung
Der Fotoapparat
Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war Einzelkind. Wir wohnten in einer großen Wohnung in der Straße hinter dem Schloss. Ich kann mich an die drei Stuben erinnern, die ineinander übergingen, durch breite Schiebetüren geteilt, die immer offenstanden, und an die schweren Portieren mit Quasten, die zur Seite gerafft waren, wie ein dunkler Bühnenvorhang. Vater saß im Sessel in der hintersten Stube und las in der Life. Das Licht von den hohen Fenstern - entweder waren es die Straßenlaternen oder der Mond im Herbst oder aber die Sonne, die sich in grünen Bündeln durch den wilden Wein ihren Weg bahnte, wenn der Frühling kam - ließ seine weißen Handschuhe leuchten, als wären es nur diese Hände, die von ihm sichtbar waren. Ab und zu schaute er auf, bemerkte mich und zögerte einen Moment lang, bevor er weiterblätterte. Ich stand so weit entfernt, dass ich nicht sehen konnte, ob er lächelte oder sich gestört fühlte.
Als er tot war, fühlte ich keine Trauer, nur eine Art Erschöpfung. Es war meine Tante, die mir mitteilte, dass er tot war. Ich kam aus der Schule, Ende September, an einem Tag, an dem schon etwas Merkwürdiges geschehen war, denn ich hatte die brutale Einsamkeit meiner Mutter gesehen, es regnete, und da war dieses dürre Klappergestell, meine unverheiratete Tante, Vaters ältere Schwester, die so alt war, dass sich viele fragten, ob die beiden wirklich gleichen Ursprungs sein konnten, und jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir in den Sinn, wie unmöglich doch die Vorstellung war, dass Vater von irgendjemandem der kleine Bruder war.
Sie knackte mit den Fingern, das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, fünf Mal ein trockenes Knacken.
"Er ist tot", sagte die Tante.
"Wer?"
"Dein Vater."
Dann strich sie mir schnell mit der Hand übers Gesicht, das vom Regen ganz nass war, vielleicht glaubte sie ja, ich hätte angefangen zu weinen. Sie folgte mir zu meiner Mutter nach drinnen. Deren Weinen war echt. Es war übrigens das erste Mal, dass ich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, das jetzt ihr allein gehören sollte. Ein breiter Nachttisch stand zwischen den Betten. Vaters Handschuhe lagen unter der Lampe. Jetzt konnte ich sehen, dass sie fleckig waren, die Finger ganz grau, von Druckerschwärze oder vom Tabak. Sie leuchteten nicht mehr.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", flüsterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen überdrüssig, und sie war meiner überdrüssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen wäre.
"Du solltest dich schämen", sagte sie. "Schäm dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich schämen, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgefühl.
Vater wurde sieben Tage später im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anwälte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus Rücksicht auf uns alle, denn Vater war kein schöner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es wächst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich saß in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgehört zu weinen. Die Tante war immer noch wütend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als wäre der Sarg an einem Seil aus Blumenstängeln vertäut. Hinter mir hörte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur flüsterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogengängen an den Wänden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Gedächtnis bleiben und niemals vergessen werden würde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und während der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gefühl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einfällen war, ihre verrückteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht für ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was hätte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt hätte, wer mein Vater war? Ich hätte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so schön heißt. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kränzen hinuntersenkte, und gleichzeitig hörte ich das Geräusch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Geräusch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war.
Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war Einzelkind. Wir wohnten in einer großen Wohnung in der Straße hinter dem Schloss. Ich kann mich an die drei Stuben erinnern, die ineinander übergingen, durch breite Schiebetüren geteilt, die immer offenstanden, und an die schweren Portieren mit Quasten, die zur Seite gerafft waren, wie ein dunkler Bühnenvorhang. Vater saß im Sessel in der hintersten Stube und las in der Life. Das Licht von den hohen Fenstern - entweder waren es die Straßenlaternen oder der Mond im Herbst oder aber die Sonne, die sich in grünen Bündeln durch den wilden Wein ihren Weg bahnte, wenn der Frühling kam - ließ seine weißen Handschuhe leuchten, als wären es nur diese Hände, die von ihm sichtbar waren. Ab und zu schaute er auf, bemerkte mich und zögerte einen Moment lang, bevor er weiterblätterte. Ich stand so weit entfernt, dass ich nicht sehen konnte, ob er lächelte oder sich gestört fühlte.
Als er tot war, fühlte ich keine Trauer, nur eine Art Erschöpfung. Es war meine Tante, die mir mitteilte, dass er tot war. Ich kam aus der Schule, Ende September, an einem Tag, an dem schon etwas Merkwürdiges geschehen war, denn ich hatte die brutale Einsamkeit meiner Mutter gesehen, es regnete, und da war dieses dürre Klappergestell, meine unverheiratete Tante, Vaters ältere Schwester, die so alt war, dass sich viele fragten, ob die beiden wirklich gleichen Ursprungs sein konnten, und jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir in den Sinn, wie unmöglich doch die Vorstellung war, dass Vater von irgendjemandem der kleine Bruder war.
Sie knackte mit den Fingern, das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, fünf Mal ein trockenes Knacken.
"Er ist tot", sagte die Tante.
"Wer?"
"Dein Vater."
Dann strich sie mir schnell mit der Hand übers Gesicht, das vom Regen ganz nass war, vielleicht glaubte sie ja, ich hätte angefangen zu weinen. Sie folgte mir zu meiner Mutter nach drinnen. Deren Weinen war echt. Es war übrigens das erste Mal, dass ich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, das jetzt ihr allein gehören sollte. Ein breiter Nachttisch stand zwischen den Betten. Vaters Handschuhe lagen unter der Lampe. Jetzt konnte ich sehen, dass sie fleckig waren, die Finger ganz grau, von Druckerschwärze oder vom Tabak. Sie leuchteten nicht mehr.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", flüsterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen überdrüssig, und sie war meiner überdrüssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen wäre.
"Du solltest dich schämen", sagte sie. "Schäm dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich schämen, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgefühl.
Vater wurde sieben Tage später im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anwälte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus Rücksicht auf uns alle, denn Vater war kein schöner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es wächst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich saß in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgehört zu weinen. Die Tante war immer noch wütend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als wäre der Sarg an einem Seil aus Blumenstängeln vertäut. Hinter mir hörte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur flüsterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogengängen an den Wänden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Gedächtnis bleiben und niemals vergessen werden würde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und während der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gefühl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einfällen war, ihre verrückteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht für ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was hätte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt hätte, wer mein Vater war? Ich hätte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so schön heißt. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kränzen hinuntersenkte, und gleichzeitig hörte ich das Geräusch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Geräusch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war.
Der Fotoapparat
Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war Einzelkind. Wir wohnten in einer großen Wohnung in der Straße hinter dem Schloss. Ich kann mich an die drei Stuben erinnern, die ineinander übergingen, durch breite Schiebetüren geteilt, die immer offenstanden, und an die schweren Portieren mit Quasten, die zur Seite gerafft waren, wie ein dunkler Bühnenvorhang. Vater saß im Sessel in der hintersten Stube und las in der Life. Das Licht von den hohen Fenstern - entweder waren es die Straßenlaternen oder der Mond im Herbst oder aber die Sonne, die sich in grünen Bündeln durch den wilden Wein ihren Weg bahnte, wenn der Frühling kam - ließ seine weißen Handschuhe leuchten, als wären es nur diese Hände, die von ihm sichtbar waren. Ab und zu schaute er auf, bemerkte mich und zögerte einen Moment lang, bevor er weiterblätterte. Ich stand so weit entfernt, dass ich nicht sehen konnte, ob er lächelte oder sich gestört fühlte.
Als er tot war, fühlte ich keine Trauer, nur eine Art Erschöpfung. Es war meine Tante, die mir mitteilte, dass er tot war. Ich kam aus der Schule, Ende September, an einem Tag, an dem schon etwas Merkwürdiges geschehen war, denn ich hatte die brutale Einsamkeit meiner Mutter gesehen, es regnete, und da war dieses dürre Klappergestell, meine unverheiratete Tante, Vaters ältere Schwester, die so alt war, dass sich viele fragten, ob die beiden wirklich gleichen Ursprungs sein konnten, und jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir in den Sinn, wie unmöglich doch die Vorstellung war, dass Vater von irgendjemandem der kleine Bruder war.
Sie knackte mit den Fingern, das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, fünf Mal ein trockenes Knacken.
"Er ist tot", sagte die Tante.
"Wer?"
"Dein Vater."
Dann strich sie mir schnell mit der Hand übers Gesicht, das vom Regen ganz nass war, vielleicht glaubte sie ja, ich hätte angefangen zu weinen. Sie folgte mir zu meiner Mutter nach drinnen. Deren Weinen war echt. Es war übrigens das erste Mal, dass ich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, das jetzt ihr allein gehören sollte. Ein breiter Nachttisch stand zwischen den Betten. Vaters Handschuhe lagen unter der Lampe. Jetzt konnte ich sehen, dass sie fleckig waren, die Finger ganz grau, von Druckerschwärze oder vom Tabak. Sie leuchteten nicht mehr.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", flüsterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen überdrüssig, und sie war meiner überdrüssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen wäre.
"Du solltest dich schämen", sagte sie. "Schäm dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich schämen, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgefühl.
Vater wurde sieben Tage später im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anwälte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus Rücksicht auf uns alle, denn Vater war kein schöner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es wächst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich saß in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgehört zu weinen. Die Tante war immer noch wütend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als wäre der Sarg an einem Seil aus Blumenstängeln vertäut. Hinter mir hörte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur flüsterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogengängen an den Wänden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Gedächtnis bleiben und niemals vergessen werden würde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und während der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gefühl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einfällen war, ihre verrückteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht für ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was hätte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt hätte, wer mein Vater war? Ich hätte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so schön heißt. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kränzen hinuntersenkte, und gleichzeitig hörte ich das Geräusch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Geräusch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war.
Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war Einzelkind. Wir wohnten in einer großen Wohnung in der Straße hinter dem Schloss. Ich kann mich an die drei Stuben erinnern, die ineinander übergingen, durch breite Schiebetüren geteilt, die immer offenstanden, und an die schweren Portieren mit Quasten, die zur Seite gerafft waren, wie ein dunkler Bühnenvorhang. Vater saß im Sessel in der hintersten Stube und las in der Life. Das Licht von den hohen Fenstern - entweder waren es die Straßenlaternen oder der Mond im Herbst oder aber die Sonne, die sich in grünen Bündeln durch den wilden Wein ihren Weg bahnte, wenn der Frühling kam - ließ seine weißen Handschuhe leuchten, als wären es nur diese Hände, die von ihm sichtbar waren. Ab und zu schaute er auf, bemerkte mich und zögerte einen Moment lang, bevor er weiterblätterte. Ich stand so weit entfernt, dass ich nicht sehen konnte, ob er lächelte oder sich gestört fühlte.
Als er tot war, fühlte ich keine Trauer, nur eine Art Erschöpfung. Es war meine Tante, die mir mitteilte, dass er tot war. Ich kam aus der Schule, Ende September, an einem Tag, an dem schon etwas Merkwürdiges geschehen war, denn ich hatte die brutale Einsamkeit meiner Mutter gesehen, es regnete, und da war dieses dürre Klappergestell, meine unverheiratete Tante, Vaters ältere Schwester, die so alt war, dass sich viele fragten, ob die beiden wirklich gleichen Ursprungs sein konnten, und jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir in den Sinn, wie unmöglich doch die Vorstellung war, dass Vater von irgendjemandem der kleine Bruder war.
Sie knackte mit den Fingern, das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, fünf Mal ein trockenes Knacken.
"Er ist tot", sagte die Tante.
"Wer?"
"Dein Vater."
Dann strich sie mir schnell mit der Hand übers Gesicht, das vom Regen ganz nass war, vielleicht glaubte sie ja, ich hätte angefangen zu weinen. Sie folgte mir zu meiner Mutter nach drinnen. Deren Weinen war echt. Es war übrigens das erste Mal, dass ich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, das jetzt ihr allein gehören sollte. Ein breiter Nachttisch stand zwischen den Betten. Vaters Handschuhe lagen unter der Lampe. Jetzt konnte ich sehen, dass sie fleckig waren, die Finger ganz grau, von Druckerschwärze oder vom Tabak. Sie leuchteten nicht mehr.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", flüsterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen überdrüssig, und sie war meiner überdrüssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen wäre.
"Du solltest dich schämen", sagte sie. "Schäm dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich schämen, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgefühl.
Vater wurde sieben Tage später im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anwälte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus Rücksicht auf uns alle, denn Vater war kein schöner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es wächst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich saß in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgehört zu weinen. Die Tante war immer noch wütend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als wäre der Sarg an einem Seil aus Blumenstängeln vertäut. Hinter mir hörte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur flüsterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogengängen an den Wänden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Gedächtnis bleiben und niemals vergessen werden würde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und während der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gefühl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einfällen war, ihre verrückteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht für ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was hätte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt hätte, wer mein Vater war? Ich hätte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so schön heißt. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kränzen hinuntersenkte, und gleichzeitig hörte ich das Geräusch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Geräusch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war.
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Maskeblomstfamilien |
Inhalt: | 288 S. |
ISBN-13: | 9783442739998 |
ISBN-10: | 3442739993 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Christensen, Lars Saabye |
Übersetzung: | Christel Hildebrandt |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 187 x 117 x 20 mm |
Von/Mit: | Lars Saabye Christensen |
Erscheinungsdatum: | 01.12.2009 |
Gewicht: | 0,259 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Maskeblomstfamilien |
Inhalt: | 288 S. |
ISBN-13: | 9783442739998 |
ISBN-10: | 3442739993 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Christensen, Lars Saabye |
Übersetzung: | Christel Hildebrandt |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 187 x 117 x 20 mm |
Von/Mit: | Lars Saabye Christensen |
Erscheinungsdatum: | 01.12.2009 |
Gewicht: | 0,259 kg |
Warnhinweis