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Liebe öffnet Herzen
Buch von Liz Mohn
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Die Limousine surrt die Landstraße entlang. Ich sitze im Fond des Wagens und sehe das dichte Grün der Bäume vorbeifliegen. Es ist ein Frühlingstag, der das Herz jubeln lässt - strahlende Sonne, tiefblauer Himmel im Kontrast zu dottergelben Butterblumenwiesen und Rapsfeldern. Gedankenversonnen betrachte ich die Schönheit der Natur. Ich bin auf dem Weg zu einer Selbsthilfegruppe der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Die Gegend ist mir sehr vertraut. Tief unten fließt die Ems, der Fluss, der mich seit frühester Kindheit begleitet hat. Es gibt dort einen Platz, den ich besonders liebe. Weidenäste hängen tief ins Wasser. »Bitte halten Sie doch mal kurz an«, sage ich zu meinem Fahrer Thomas Barnhöfer. Er nickt verständnisvoll - er weiß, wie sehr ich diesen Ort mag. Wie oft haben wir hier schon für einen Moment gestoppt.
Ich gehe hinunter zum Flussbett, beobachte, wie sich mein Gesicht im Wasser spiegelt. Die Erinnerung an ferne Tage steigt in mir auf. Ich sehe ein kleines blondes Mädchen, das hier immer wieder Anlauf nimmt und sich, an den Weidenästen festhaltend, ans andere Ufer schwingt. Es hat riesigen Spaß dabei. Wieder und wieder schwingt es hin und her. Manchmal hat es Glück und erreicht das andere Ufer, oft hat es Pech und fällt ins Wasser. Doch dann prustet und schüttelt sich das Mädchen nur und startet einen neuen Versuch.
Das kleine Mädchen war ich. Damals konnte ich nicht schwimmen. Aber so lernte ich es. Ich brachte es mir selbst bei. Da war ich vier Jahre alt. Meine Mutter sagte mir später, hier hätte sie zum ersten Mal geahnt, welch starker Wille und wie viel Unerschrockenheit in mir steckten.
Dieser Platz ist die Verbindung zu meinen Wurzeln. Ich brauche diese Erinnerung von Zeit zu Zeit. Sie tut mir gut. Sie gibt mir neue Kraft für meine Arbeit. Es war ein weiter Weg von dem hartnäckigen kleinen Mädchen zu der Frau, die ich heute bin. Nachdenklich gehe ich zum Auto zurück. Die Patienten der Selbsthilfegruppe warten auf mich.
»Alles in Ordnung, Frau Mohn?«, fragt Thomas Barnhöfer und öffnet die Autotür. Ich nicke. Er fährt mich schon viele Jahre, wir kennen einander gut. Wir brauchen nicht viele Worte, um einander zu verstehen. Während wir weiterfahren, denke ich an die untergegangene Welt meiner Kindheit.
Tod und Verwüstung herrschten überall, als ich geboren wurde. Auf den Schlachtfeldern Europas starben Millionen Menschen - doch mein Leben begann. Wir Menschen sind Teil des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen. Ich bin ein Kriegskind, meine Chancen auf ein glückliches, erfolgreiches Leben waren - wie die vieler Neugeborener damals - gering. Es ging nur um das Überleben. Die Frauen, die in dieser Zeit Kinder bekamen, sie behüteten und beschützten, sich aufopferten, um sie großzuziehen, sind noch heute Heldinnen für mich. Meine Mutter erzählte später, ich sei bei Fliegeralarm zur Welt gekommen. Es war am Vorabend des Tages, an dem der Krieg mit Russland begann - Deutschland lag wie unter einer Glocke der Angst. Angst war das beherrschende Gefühl meiner Mutter bei meiner Geburt - Angst um ihr Leben, um den Lebensstart ihres Kindes, Sorge vor einer ungewissen Zukunft. Und diese Angst übertrug sich offensichtlich auf mich. Ich habe später viel darüber gehört und gelesen, wie Kinder bereits während der Schwangerschaft Emotionen, Stimmungen und Ängste der Mutter wahrnehmen. Bei uns muss es exakt so gewesen sein: Ich war ein sehr ängstliches Baby, das nachts viel schrie und schlecht träumte. Jede Nacht musste meine Mutter mich auf den Arm nehmen, trösten, wickeln oder umziehen. Vielleicht lag hier der tiefere Grund für die besondere Bindung, die wir immer zueinander hatten.
An den Krieg habe ich - wie viele Kinder meiner Generation - nur bruchstückhafte Erinnerungen. Aber die Ängste sind mir noch gegenwärtig. Oft hatten wir Fliegeralarm in Wiedenbrück - wegen der Nähe von Bielefeld oder des Ruhrgebiets, die bombardiert wurden. Auch am Rande unserer Stadt gingen die Bomben nieder. Wie oft wurden wir Kinder aus den Betten gerissen, weil wir nachts in den Luftschutzbunker mussten. Die Angst, die ich hatte, während die Sirenen heulten und ich - oftmals noch im Nachthemd - an der Hand der Mutter die Straße entlanglief, werde ich nie vergessen. Auch nicht den muffigen Geruch in dem engen Keller, in dem Menschen ängstlich dicht an dicht bei spärlicher Beleuchtung in stickiger Luft hockten.
Eines Morgens kamen wir aus dem Bunker, und mein ganzes Bett war voller Reif. Alles war gefroren, die Eisblumen blühten am Fenster, denn es gab keine Heizung in unserem Haus. Meine Mutter erwärmte dann Steine im Backofen, die in die Kinderbetten gelegt wurden, damit wir nicht froren. Das war sehr behaglich, dieses Gefühl ist mir heute noch gegenwärtig.
Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, so waren Liebe und Fürsorge die prägenden Einflüsse. Die Welt um uns herum versank in Schutt und Asche, es herrschte Hunger, Elend und Not - als Kind kann man jedoch die Tragweite des Geschehens kaum erfassen. Wir lebten bescheiden zu Hause, aber wir waren eine Gemeinschaft, die Geborgenheit und Verlässlichkeit vermittelte. Und dieses Gefühl erinnere ich bis heute. Es offenbart mir, was Kinder wirklich glücklich macht: nicht schöne Kleider, teures Spielzeug oder weite Reisen, sondern Liebe und Geborgenheit. Und davon bekamen wir in meinem Elternhaus genug, besonders von meiner Mutter!
Heute weiß ich: Man kann von materiellen Dingen keine Sinngebung erwarten. Ein Auto oder ein schönes Haus, Erfolg im Beruf ersetzen keine liebevolle Umarmung. Man kann Liebe, Zärtlichkeit oder Vertrauen nicht durch materielle Güter und aufwendige Geschenke erlangen, sondern nur im vertrauten Miteinander mit nahe stehenden Menschen.
Unsere Mutter sorgte von früh bis spät für uns. Sie hatte einen kleinen Garten gepachtet, in dem sie Gemüse und Kartoffeln anpflanzte, damit wir genug zu essen bekamen. Ich erinnere mich heute noch an den säuerlichen Geschmack der Brotsuppe, die sehr häufig zum Mittagessen auf dem Tisch stand - sie war in den Nachkriegsjahren eine unserer Hauptnahrungsquellen. Ich glaube, da ging es mir wie vielen anderen Kindern in dieser Zeit - bald wollte ich Brotsuppe weder riechen noch essen. Doch der Hunger trieb sie in den Magen. Hungersnot wie in den Großstädten gab es aber bei uns nicht. In der kleinen Stadt mit dem ländlichen Umfeld tauschte und teilte jeder mit jedem, wenn er etwas zu essen hatte. Wurde in der Nachbarschaft ein Schwein geschlachtet, bekamen alle etwas davon ab. Es war selbstverständlich, dass Nachbarn einander halfen. Häufig sammelten wir Kinder mit unserer Mutter Bucheckern, daraus wurde dann Öl gepresst. Oder wir holten Brennholz aus dem Wald. Und morgens mussten wir Kinder im Garten Käfer von den Kartoffeln abklauben. Ich weiß es noch bis heute, wie ich mich ekelte, wenn sie meinen Arm hochkrabbelten.
Langeweile und Überdruss kannten wir Kinder dieser Generation nicht. In allen Familien ging es um das Überleben und den Erhalt der Existenz - wir Kinder waren in dieses heben mit einbezogen.

Meine Mutter
Meine Mutter war gelernte Hutmacherin und stammte aus einer Familie mit neun Kindern. Mein Vater kam aus einer Bauernfamilie und machte sich als Handwerker selbstständig. Er hatte einen schweren Schicksalsschlag verkraften müssen: Er wurde vom Blitz getroffen, lag zwei Wochen bewusstlos in der Uniklinik Münster und war danach arbeitsunfähig. Er wurde nicht in den Krieg eingezogen, was ihm sehr zugesetzt hat. Ich glaube, er empfand dies als unehrenhaft, was dem damaligen Zeitgeist entsprach. Er starb früh mit sechzig Jahren.
So war meine Mutter die entscheidende Bezugsperson für uns fünf Kinder - sie trug die Verantwortung für die ganze Familie. Heute würde man sagen, sie war eine starke Frau, die eigenständige Entscheidungen traf. Damals war das selbstverständlich, darüber sprach man gar nicht. Heute nennt man eine Frau wie sie eine starke Persönlichkeit. Damals meisterten die Frauen das Leben so, wie es kam, und machten nicht viele Worte darum. Dennoch gingen die nervlichen und körperlichen Belastungen nicht spurlos an ihnen vorüber.
Unsere Mutter war immer für uns da - sie kochte, wusch, nähte Kleidung. Natürlich merkten wir Kinder, dass sie es nicht einfach hatte. Man erlebte ja, dass die Mutter jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, dass sie oft Sorgen hatte, wie es weitergehen solle. Schon als kleines Kind spürte ich sehr genau, wenn sie etwas bedrückte. Ich nahm dann ihre Hand und streichelte sie. Ich glaube, sie verstand mich ohne Worte. Ich wollte sie auf meine kindliche Art trösten. Ich liebte sie sehr.
Trotz der schweren Zeit war sie im Grunde ein fröhlicher Mensch. Eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die neugierig und interessiert in die Welt schauten. Nur nicht unterkriegen lassen, war ihr Lebensmotto und Lebensgefühl - sie dachte immer positiv. Sie kannte und sang alle Lieder dieser Welt. Sie hatte viele Freunde und Bekannte, die jeden Tag kamen und sie besuchten. Nie redete sie schlecht über jemanden, hatte für jeden ein offenes Herz und war sehr hilfsbereit.
In der Nachkriegszeit gab es viele Bettler, die Leute hatten oft nichts zu essen. Meine Mutter gab immer etwas, wenn jemand vor der Tür stand - ein Stück Brot, etwas Gemüse, einen Teller Suppe. Und wir hatten auch immer Ferienkinder aus dem Ruhrgebiet, die sie aufpäppelte. Ich weiß nicht, wie sie es bewerkstelligte, aber später hat sie uns Kindern vieles ermöglicht - wir hatten Fahrräder, Rollschuhe, Schlittschuhe. Die Ufer der Ems waren unser liebster Spielplatz. Im Sommer schwammen wir darin, im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem zugefrorenen Fluss. Wenn wir wie zu Eiszapfen gefroren nach Hause kamen, hatte sie Berliner gebacken. Sie verstand es, eine behagliche Atmosphäre zu schaffen. Was sie für uns Kinder getan hat, konnte ich erst richtig ermessen, als ich eigene Kinder hatte. Sie gab uns liebevolle Geborgenheit.
Ich weiß, dass sie in...
Die Limousine surrt die Landstraße entlang. Ich sitze im Fond des Wagens und sehe das dichte Grün der Bäume vorbeifliegen. Es ist ein Frühlingstag, der das Herz jubeln lässt - strahlende Sonne, tiefblauer Himmel im Kontrast zu dottergelben Butterblumenwiesen und Rapsfeldern. Gedankenversonnen betrachte ich die Schönheit der Natur. Ich bin auf dem Weg zu einer Selbsthilfegruppe der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Die Gegend ist mir sehr vertraut. Tief unten fließt die Ems, der Fluss, der mich seit frühester Kindheit begleitet hat. Es gibt dort einen Platz, den ich besonders liebe. Weidenäste hängen tief ins Wasser. »Bitte halten Sie doch mal kurz an«, sage ich zu meinem Fahrer Thomas Barnhöfer. Er nickt verständnisvoll - er weiß, wie sehr ich diesen Ort mag. Wie oft haben wir hier schon für einen Moment gestoppt.
Ich gehe hinunter zum Flussbett, beobachte, wie sich mein Gesicht im Wasser spiegelt. Die Erinnerung an ferne Tage steigt in mir auf. Ich sehe ein kleines blondes Mädchen, das hier immer wieder Anlauf nimmt und sich, an den Weidenästen festhaltend, ans andere Ufer schwingt. Es hat riesigen Spaß dabei. Wieder und wieder schwingt es hin und her. Manchmal hat es Glück und erreicht das andere Ufer, oft hat es Pech und fällt ins Wasser. Doch dann prustet und schüttelt sich das Mädchen nur und startet einen neuen Versuch.
Das kleine Mädchen war ich. Damals konnte ich nicht schwimmen. Aber so lernte ich es. Ich brachte es mir selbst bei. Da war ich vier Jahre alt. Meine Mutter sagte mir später, hier hätte sie zum ersten Mal geahnt, welch starker Wille und wie viel Unerschrockenheit in mir steckten.
Dieser Platz ist die Verbindung zu meinen Wurzeln. Ich brauche diese Erinnerung von Zeit zu Zeit. Sie tut mir gut. Sie gibt mir neue Kraft für meine Arbeit. Es war ein weiter Weg von dem hartnäckigen kleinen Mädchen zu der Frau, die ich heute bin. Nachdenklich gehe ich zum Auto zurück. Die Patienten der Selbsthilfegruppe warten auf mich.
»Alles in Ordnung, Frau Mohn?«, fragt Thomas Barnhöfer und öffnet die Autotür. Ich nicke. Er fährt mich schon viele Jahre, wir kennen einander gut. Wir brauchen nicht viele Worte, um einander zu verstehen. Während wir weiterfahren, denke ich an die untergegangene Welt meiner Kindheit.
Tod und Verwüstung herrschten überall, als ich geboren wurde. Auf den Schlachtfeldern Europas starben Millionen Menschen - doch mein Leben begann. Wir Menschen sind Teil des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen. Ich bin ein Kriegskind, meine Chancen auf ein glückliches, erfolgreiches Leben waren - wie die vieler Neugeborener damals - gering. Es ging nur um das Überleben. Die Frauen, die in dieser Zeit Kinder bekamen, sie behüteten und beschützten, sich aufopferten, um sie großzuziehen, sind noch heute Heldinnen für mich. Meine Mutter erzählte später, ich sei bei Fliegeralarm zur Welt gekommen. Es war am Vorabend des Tages, an dem der Krieg mit Russland begann - Deutschland lag wie unter einer Glocke der Angst. Angst war das beherrschende Gefühl meiner Mutter bei meiner Geburt - Angst um ihr Leben, um den Lebensstart ihres Kindes, Sorge vor einer ungewissen Zukunft. Und diese Angst übertrug sich offensichtlich auf mich. Ich habe später viel darüber gehört und gelesen, wie Kinder bereits während der Schwangerschaft Emotionen, Stimmungen und Ängste der Mutter wahrnehmen. Bei uns muss es exakt so gewesen sein: Ich war ein sehr ängstliches Baby, das nachts viel schrie und schlecht träumte. Jede Nacht musste meine Mutter mich auf den Arm nehmen, trösten, wickeln oder umziehen. Vielleicht lag hier der tiefere Grund für die besondere Bindung, die wir immer zueinander hatten.
An den Krieg habe ich - wie viele Kinder meiner Generation - nur bruchstückhafte Erinnerungen. Aber die Ängste sind mir noch gegenwärtig. Oft hatten wir Fliegeralarm in Wiedenbrück - wegen der Nähe von Bielefeld oder des Ruhrgebiets, die bombardiert wurden. Auch am Rande unserer Stadt gingen die Bomben nieder. Wie oft wurden wir Kinder aus den Betten gerissen, weil wir nachts in den Luftschutzbunker mussten. Die Angst, die ich hatte, während die Sirenen heulten und ich - oftmals noch im Nachthemd - an der Hand der Mutter die Straße entlanglief, werde ich nie vergessen. Auch nicht den muffigen Geruch in dem engen Keller, in dem Menschen ängstlich dicht an dicht bei spärlicher Beleuchtung in stickiger Luft hockten.
Eines Morgens kamen wir aus dem Bunker, und mein ganzes Bett war voller Reif. Alles war gefroren, die Eisblumen blühten am Fenster, denn es gab keine Heizung in unserem Haus. Meine Mutter erwärmte dann Steine im Backofen, die in die Kinderbetten gelegt wurden, damit wir nicht froren. Das war sehr behaglich, dieses Gefühl ist mir heute noch gegenwärtig.
Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, so waren Liebe und Fürsorge die prägenden Einflüsse. Die Welt um uns herum versank in Schutt und Asche, es herrschte Hunger, Elend und Not - als Kind kann man jedoch die Tragweite des Geschehens kaum erfassen. Wir lebten bescheiden zu Hause, aber wir waren eine Gemeinschaft, die Geborgenheit und Verlässlichkeit vermittelte. Und dieses Gefühl erinnere ich bis heute. Es offenbart mir, was Kinder wirklich glücklich macht: nicht schöne Kleider, teures Spielzeug oder weite Reisen, sondern Liebe und Geborgenheit. Und davon bekamen wir in meinem Elternhaus genug, besonders von meiner Mutter!
Heute weiß ich: Man kann von materiellen Dingen keine Sinngebung erwarten. Ein Auto oder ein schönes Haus, Erfolg im Beruf ersetzen keine liebevolle Umarmung. Man kann Liebe, Zärtlichkeit oder Vertrauen nicht durch materielle Güter und aufwendige Geschenke erlangen, sondern nur im vertrauten Miteinander mit nahe stehenden Menschen.
Unsere Mutter sorgte von früh bis spät für uns. Sie hatte einen kleinen Garten gepachtet, in dem sie Gemüse und Kartoffeln anpflanzte, damit wir genug zu essen bekamen. Ich erinnere mich heute noch an den säuerlichen Geschmack der Brotsuppe, die sehr häufig zum Mittagessen auf dem Tisch stand - sie war in den Nachkriegsjahren eine unserer Hauptnahrungsquellen. Ich glaube, da ging es mir wie vielen anderen Kindern in dieser Zeit - bald wollte ich Brotsuppe weder riechen noch essen. Doch der Hunger trieb sie in den Magen. Hungersnot wie in den Großstädten gab es aber bei uns nicht. In der kleinen Stadt mit dem ländlichen Umfeld tauschte und teilte jeder mit jedem, wenn er etwas zu essen hatte. Wurde in der Nachbarschaft ein Schwein geschlachtet, bekamen alle etwas davon ab. Es war selbstverständlich, dass Nachbarn einander halfen. Häufig sammelten wir Kinder mit unserer Mutter Bucheckern, daraus wurde dann Öl gepresst. Oder wir holten Brennholz aus dem Wald. Und morgens mussten wir Kinder im Garten Käfer von den Kartoffeln abklauben. Ich weiß es noch bis heute, wie ich mich ekelte, wenn sie meinen Arm hochkrabbelten.
Langeweile und Überdruss kannten wir Kinder dieser Generation nicht. In allen Familien ging es um das Überleben und den Erhalt der Existenz - wir Kinder waren in dieses heben mit einbezogen.

Meine Mutter
Meine Mutter war gelernte Hutmacherin und stammte aus einer Familie mit neun Kindern. Mein Vater kam aus einer Bauernfamilie und machte sich als Handwerker selbstständig. Er hatte einen schweren Schicksalsschlag verkraften müssen: Er wurde vom Blitz getroffen, lag zwei Wochen bewusstlos in der Uniklinik Münster und war danach arbeitsunfähig. Er wurde nicht in den Krieg eingezogen, was ihm sehr zugesetzt hat. Ich glaube, er empfand dies als unehrenhaft, was dem damaligen Zeitgeist entsprach. Er starb früh mit sechzig Jahren.
So war meine Mutter die entscheidende Bezugsperson für uns fünf Kinder - sie trug die Verantwortung für die ganze Familie. Heute würde man sagen, sie war eine starke Frau, die eigenständige Entscheidungen traf. Damals war das selbstverständlich, darüber sprach man gar nicht. Heute nennt man eine Frau wie sie eine starke Persönlichkeit. Damals meisterten die Frauen das Leben so, wie es kam, und machten nicht viele Worte darum. Dennoch gingen die nervlichen und körperlichen Belastungen nicht spurlos an ihnen vorüber.
Unsere Mutter war immer für uns da - sie kochte, wusch, nähte Kleidung. Natürlich merkten wir Kinder, dass sie es nicht einfach hatte. Man erlebte ja, dass die Mutter jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, dass sie oft Sorgen hatte, wie es weitergehen solle. Schon als kleines Kind spürte ich sehr genau, wenn sie etwas bedrückte. Ich nahm dann ihre Hand und streichelte sie. Ich glaube, sie verstand mich ohne Worte. Ich wollte sie auf meine kindliche Art trösten. Ich liebte sie sehr.
Trotz der schweren Zeit war sie im Grunde ein fröhlicher Mensch. Eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die neugierig und interessiert in die Welt schauten. Nur nicht unterkriegen lassen, war ihr Lebensmotto und Lebensgefühl - sie dachte immer positiv. Sie kannte und sang alle Lieder dieser Welt. Sie hatte viele Freunde und Bekannte, die jeden Tag kamen und sie besuchten. Nie redete sie schlecht über jemanden, hatte für jeden ein offenes Herz und war sehr hilfsbereit.
In der Nachkriegszeit gab es viele Bettler, die Leute hatten oft nichts zu essen. Meine Mutter gab immer etwas, wenn jemand vor der Tür stand - ein Stück Brot, etwas Gemüse, einen Teller Suppe. Und wir hatten auch immer Ferienkinder aus dem Ruhrgebiet, die sie aufpäppelte. Ich weiß nicht, wie sie es bewerkstelligte, aber später hat sie uns Kindern vieles ermöglicht - wir hatten Fahrräder, Rollschuhe, Schlittschuhe. Die Ufer der Ems waren unser liebster Spielplatz. Im Sommer schwammen wir darin, im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem zugefrorenen Fluss. Wenn wir wie zu Eiszapfen gefroren nach Hause kamen, hatte sie Berliner gebacken. Sie verstand es, eine behagliche Atmosphäre zu schaffen. Was sie für uns Kinder getan hat, konnte ich erst richtig ermessen, als ich eigene Kinder hatte. Sie gab uns liebevolle Geborgenheit.
Ich weiß, dass sie in...
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