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Lärchenau
Roman
Taschenbuch von Kerstin Hensel
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Erst wenn der Besucher Philadelphia hinter sich gelassen hat und von der Bundesstraße 246 nach wenigen Kilometern südlich abbiegt, das Urstromtal durchfährt, an Seen Brachwiesen Heideflächen vorbeigekommen ist, an Roggenfeldern mit blauäugigen Kornblumen, an aufgeschütteten Spargelzeilen, alten Gehöften, Richtung Groß Eichholz, dann linksweg durch sanfthügliges Sandgebiet, in dem Kiefern und Lärchen im Sommer harzige Wärme verströmen, wenn er noch ein Stück westwärts fährt, hat er Lärchenau erreicht.
Der Besucher wird sehen, daß dieser Ort wenig zu bieten hat: kein Schlachtendenkmal, keine alte Feldsteinkirche, kein berühmtes Restaurant, nicht einmal ein Storchennest. Dabei ist Lärchenau reizvoll eingebettet in gesunde Flora und Heimat für fast achthundert Menschen, die in soliden Häusern wohnen, jedes mit neu gedecktem Schindeldach. Der durstige Besucher kann Einkehr halten im Gartenlokal "Zum Ochsen". "Timms Fleischerei", die sich mit braunglasierten Außenwandkacheln vom Lichtocker der anderen Häuser abhebt, bietet an Wochentagen schmackhafte ländliche Kost. Verläßt man die Dorfstraße und schlägt sich linksrechts in Nebenwege, wird man vielleicht vor der zweistöckigen prächtigen Villa verweilen, die dem Arzt Professor Doktor Gunter Konarske gehört.

Aber nur wenn der Besucher den Weg über den Anger bis ans Dorfende geht, kann er das Schloß sehen. Jenen bescheidenen, altrosa verputzten Landsitz derer von Lärchenau. Der vierzig Jahre lang als Lagerhalle für Landmaschinen diente. Hinter dem sich jetzt ein kleiner barocker Park in den märkischen Wald hinein öffnet. Wer Lust verspürt, diesen Wald zu betreten, wird in angenehmer Ruhe seinen Alltag vergessen. Sommers kann man auf sonnenknisternden Lichtungen ein beispielloses Biotop erforschen. Hier, bei Lärchenau, findet der Pilzkenner neben goldgelb glänzenden Lärchenröhrlingen die köstlichsten Reizker-Arten: jene, deren orange- oder blutroter Saft milde unter den Lamellen hervortritt und deren edelste Exemplare in der Küche begehrt sind. Nur wenn in irgendeinem Winkel des Waldes der Hallimasch auftritt, ist Gefahr angesagt.
Wer durch die hierorts oft herrschende Trockenheit den Wald lieber meidet, kann Erholung am Mennichensee finden. Keine zehn Fahrradminuten von Lärchenau entfernt liegt er eingebettet in niedrighölzigem Nadelwald: ein Kleinod der Natur, mit Teichrosen und Schilf umgürtet. Bläßhühner und Haubentaucher sind zu beobachten, wie sie blitzschnell abtauchen und oft so lang unter Wasser bleiben, daß man glauben könnte, am Grunde des Sees befände sich etwas außerordentlich Interessantes. Mitunter erscheinen Kormorane, die sich auf den Uferpfählen niederlassen, um nach dem Fischen fächelnd ihre Flügel zu trocknen. Entdeckt der Jäger diese Vögel, schießt er sie ab.
In nur vierzig Autominuten erreicht man von Lärchenau aus die Oper. Überhaupt hört man durch das stille, stets nachwachsende Grün der Landschaft den Lärm der nahen Stadt.
Am 6. September 1944 wurde in Lärchenau, in der Wohnstube des Milchmannes Otto Konarske, dessen lediger Tochter Rosie ein Junge geboren. Unter Musik, die aus dem Volksempfänger klang. Die Hebamme hatte den Radioapparat vom Schrank genommen und ihn neben die Kreißende, die rücklings auf wachstuchgeschütztem Sessel lag, placiert. "Die Kiste stinkt!" keuchte Rosie.
Sie wollte erklären, daß ihr der Geruch des Bakelits schon immer Übelkeit erzeugt hätte, aber das Geheimrezept der Hebamme lautete: Mit Musik geht alles besser. Auch Hühner, behauptete sie, legen bei Musik größere Eier, Kühe geben mehr
Milch.
Der Großdeutsche Rundfunk gab Wagner. An jenem Nachmittag hörte die Gebärende, was ihr, vermischt mit dem Bakelitgeruch, wie ein Wurm in die Seele kroch - Denn der Götter Ende / dämmert nun herauf. Sie quälte sich in den Wehen, mochte den orgelnden Sopran nicht ertragen, denn diese Töne, erinnerte sie sich, hatte der Kindsvater Doktor Lingott verabscheut. Er, der Musikliebhaber, auch wenn er jetzt am Ort der ewigen Stille weilte und Engelskonzerten lauschte. Rosie zerschrie unter den Wehen die nicht endenwollende Arie selig in Lust und Leid / läßt die Liebe nur sein, und einen Moment lang glaubte sie an die große Lüge der Musik.

Siebzig Jahre alt war Rochus Lingott gewesen, als er seinen Sohn gezeugt hatte. Der Arzt, der auf so wundersame Weise die Lärchenauer über zwei Weltkriege hinweggetröstet, der für alles eine Medizin, eine Musik oder eine andere Lösung hatte. Der Doktor war ein Mann vornehmer Güte. Schlank, das Haar im Alter voll und weiß. Aufgrund seiner Größe lief er nach vorn gebeugt, zog ein wenig die Schultern ein und sprach mit tiefer weicher Stimme, die aus einem unendlichen Resonanzraum seines Inneren zu kommen schien. Mit Vorliebe trug er helle Leinenhosen und weiße Hemden aus Baumwolle. Selbst auf Beerdigungen erschien er in birkenhafter Frische. Niemand nahm es ihm übel.
Doktor Lingott heilte vornehmlich mit dem, was die Natur bot. Nicht, daß er ein Verächter der Schulmedizin war, aber als Landarzt hatte er das Wissen und den Zugriff auf das, was ihm quasi vor Augen wuchs: heilkräftige Kräuter, Blüten und Beeren. Oftmals empfahl Doktor Lingott versehrten Patienten ein Bad im Mennichensee. Der See, behauptete er, verfüge über eine besondere Algenart, der man eine gesundende Wirkung nachsage. Tatsächlich erreichte der Arzt mit seiner Bademethode Erfolge. Vor allem Brandverletzte und Männer, die mit amputierten Gliedmaßen aus Verdun Warschau Stalingrad nach Lärchenau zurückkehrten, schickte er ins Wasser, wo sie unter Aufsicht einer Krankenschwester ihre verschmolzenen Häute und Stümpfe badeten und danach merklich an Lebensmut gewannen.
Bei weiblichen Patienten bevorzugte der Doktor subtilere Heilmethoden. Wie auf dem Land üblich, besuchte er die Kranken oft zu Hause. Er schwang sich aufs Fahrrad (in späteren Jahren fuhr er einen kleinen Ford), machte sich auf den Weg durch Lärchenau und in die Nachbardörfer. Bei sich trug er eine Ledertasche, die neben medizinischen Untersuchungsgeräten allerhand Beruhigungs- und Belebungstropfen barg. Je nach dem, was die Landfrauen an Beschwerden vorzubringen hatten, flößte ihnen Doktor Lingott pflanzliche Balsame ein. Nachdem sie Wirkung gezeigt hatten, fanden sich die Patientinnen in erlöstem Zustand.
Vor allem den Witwen der Gegend tat der Doktor wohl. Er sprach mit ihnen im tiefen eindringlichen Largo des Wissenden. Er trieb ihnen die Trauer aus, indem er spezielle abendliche Spaziergänge verordnete. So taten es die Witwen: Abends liefen sie in Grüppchen durch Lärchenau, flüsterten, kicherten, hakten sich backfischhaft unter. Wie vorgeschrieben, machten sie vor dem Haus des Doktors halt. Dort begann die Therapie. Aus dem geöffneten Fenster über den Praxisräumen tönte Musik. Doktor Lingott spielte. Auf einem Flügel. Nicht meisterhaft, aber hinreißend. Bach Mozart Beethoven.
Erst wenn der Besucher Philadelphia hinter sich gelassen hat und von der Bundesstraße 246 nach wenigen Kilometern südlich abbiegt, das Urstromtal durchfährt, an Seen Brachwiesen Heideflächen vorbeigekommen ist, an Roggenfeldern mit blauäugigen Kornblumen, an aufgeschütteten Spargelzeilen, alten Gehöften, Richtung Groß Eichholz, dann linksweg durch sanfthügliges Sandgebiet, in dem Kiefern und Lärchen im Sommer harzige Wärme verströmen, wenn er noch ein Stück westwärts fährt, hat er Lärchenau erreicht.
Der Besucher wird sehen, daß dieser Ort wenig zu bieten hat: kein Schlachtendenkmal, keine alte Feldsteinkirche, kein berühmtes Restaurant, nicht einmal ein Storchennest. Dabei ist Lärchenau reizvoll eingebettet in gesunde Flora und Heimat für fast achthundert Menschen, die in soliden Häusern wohnen, jedes mit neu gedecktem Schindeldach. Der durstige Besucher kann Einkehr halten im Gartenlokal "Zum Ochsen". "Timms Fleischerei", die sich mit braunglasierten Außenwandkacheln vom Lichtocker der anderen Häuser abhebt, bietet an Wochentagen schmackhafte ländliche Kost. Verläßt man die Dorfstraße und schlägt sich linksrechts in Nebenwege, wird man vielleicht vor der zweistöckigen prächtigen Villa verweilen, die dem Arzt Professor Doktor Gunter Konarske gehört.

Aber nur wenn der Besucher den Weg über den Anger bis ans Dorfende geht, kann er das Schloß sehen. Jenen bescheidenen, altrosa verputzten Landsitz derer von Lärchenau. Der vierzig Jahre lang als Lagerhalle für Landmaschinen diente. Hinter dem sich jetzt ein kleiner barocker Park in den märkischen Wald hinein öffnet. Wer Lust verspürt, diesen Wald zu betreten, wird in angenehmer Ruhe seinen Alltag vergessen. Sommers kann man auf sonnenknisternden Lichtungen ein beispielloses Biotop erforschen. Hier, bei Lärchenau, findet der Pilzkenner neben goldgelb glänzenden Lärchenröhrlingen die köstlichsten Reizker-Arten: jene, deren orange- oder blutroter Saft milde unter den Lamellen hervortritt und deren edelste Exemplare in der Küche begehrt sind. Nur wenn in irgendeinem Winkel des Waldes der Hallimasch auftritt, ist Gefahr angesagt.
Wer durch die hierorts oft herrschende Trockenheit den Wald lieber meidet, kann Erholung am Mennichensee finden. Keine zehn Fahrradminuten von Lärchenau entfernt liegt er eingebettet in niedrighölzigem Nadelwald: ein Kleinod der Natur, mit Teichrosen und Schilf umgürtet. Bläßhühner und Haubentaucher sind zu beobachten, wie sie blitzschnell abtauchen und oft so lang unter Wasser bleiben, daß man glauben könnte, am Grunde des Sees befände sich etwas außerordentlich Interessantes. Mitunter erscheinen Kormorane, die sich auf den Uferpfählen niederlassen, um nach dem Fischen fächelnd ihre Flügel zu trocknen. Entdeckt der Jäger diese Vögel, schießt er sie ab.
In nur vierzig Autominuten erreicht man von Lärchenau aus die Oper. Überhaupt hört man durch das stille, stets nachwachsende Grün der Landschaft den Lärm der nahen Stadt.
Am 6. September 1944 wurde in Lärchenau, in der Wohnstube des Milchmannes Otto Konarske, dessen lediger Tochter Rosie ein Junge geboren. Unter Musik, die aus dem Volksempfänger klang. Die Hebamme hatte den Radioapparat vom Schrank genommen und ihn neben die Kreißende, die rücklings auf wachstuchgeschütztem Sessel lag, placiert. "Die Kiste stinkt!" keuchte Rosie.
Sie wollte erklären, daß ihr der Geruch des Bakelits schon immer Übelkeit erzeugt hätte, aber das Geheimrezept der Hebamme lautete: Mit Musik geht alles besser. Auch Hühner, behauptete sie, legen bei Musik größere Eier, Kühe geben mehr
Milch.
Der Großdeutsche Rundfunk gab Wagner. An jenem Nachmittag hörte die Gebärende, was ihr, vermischt mit dem Bakelitgeruch, wie ein Wurm in die Seele kroch - Denn der Götter Ende / dämmert nun herauf. Sie quälte sich in den Wehen, mochte den orgelnden Sopran nicht ertragen, denn diese Töne, erinnerte sie sich, hatte der Kindsvater Doktor Lingott verabscheut. Er, der Musikliebhaber, auch wenn er jetzt am Ort der ewigen Stille weilte und Engelskonzerten lauschte. Rosie zerschrie unter den Wehen die nicht endenwollende Arie selig in Lust und Leid / läßt die Liebe nur sein, und einen Moment lang glaubte sie an die große Lüge der Musik.

Siebzig Jahre alt war Rochus Lingott gewesen, als er seinen Sohn gezeugt hatte. Der Arzt, der auf so wundersame Weise die Lärchenauer über zwei Weltkriege hinweggetröstet, der für alles eine Medizin, eine Musik oder eine andere Lösung hatte. Der Doktor war ein Mann vornehmer Güte. Schlank, das Haar im Alter voll und weiß. Aufgrund seiner Größe lief er nach vorn gebeugt, zog ein wenig die Schultern ein und sprach mit tiefer weicher Stimme, die aus einem unendlichen Resonanzraum seines Inneren zu kommen schien. Mit Vorliebe trug er helle Leinenhosen und weiße Hemden aus Baumwolle. Selbst auf Beerdigungen erschien er in birkenhafter Frische. Niemand nahm es ihm übel.
Doktor Lingott heilte vornehmlich mit dem, was die Natur bot. Nicht, daß er ein Verächter der Schulmedizin war, aber als Landarzt hatte er das Wissen und den Zugriff auf das, was ihm quasi vor Augen wuchs: heilkräftige Kräuter, Blüten und Beeren. Oftmals empfahl Doktor Lingott versehrten Patienten ein Bad im Mennichensee. Der See, behauptete er, verfüge über eine besondere Algenart, der man eine gesundende Wirkung nachsage. Tatsächlich erreichte der Arzt mit seiner Bademethode Erfolge. Vor allem Brandverletzte und Männer, die mit amputierten Gliedmaßen aus Verdun Warschau Stalingrad nach Lärchenau zurückkehrten, schickte er ins Wasser, wo sie unter Aufsicht einer Krankenschwester ihre verschmolzenen Häute und Stümpfe badeten und danach merklich an Lebensmut gewannen.
Bei weiblichen Patienten bevorzugte der Doktor subtilere Heilmethoden. Wie auf dem Land üblich, besuchte er die Kranken oft zu Hause. Er schwang sich aufs Fahrrad (in späteren Jahren fuhr er einen kleinen Ford), machte sich auf den Weg durch Lärchenau und in die Nachbardörfer. Bei sich trug er eine Ledertasche, die neben medizinischen Untersuchungsgeräten allerhand Beruhigungs- und Belebungstropfen barg. Je nach dem, was die Landfrauen an Beschwerden vorzubringen hatten, flößte ihnen Doktor Lingott pflanzliche Balsame ein. Nachdem sie Wirkung gezeigt hatten, fanden sich die Patientinnen in erlöstem Zustand.
Vor allem den Witwen der Gegend tat der Doktor wohl. Er sprach mit ihnen im tiefen eindringlichen Largo des Wissenden. Er trieb ihnen die Trauer aus, indem er spezielle abendliche Spaziergänge verordnete. So taten es die Witwen: Abends liefen sie in Grüppchen durch Lärchenau, flüsterten, kicherten, hakten sich backfischhaft unter. Wie vorgeschrieben, machten sie vor dem Haus des Doktors halt. Dort begann die Therapie. Aus dem geöffneten Fenster über den Praxisräumen tönte Musik. Doktor Lingott spielte. Auf einem Flügel. Nicht meisterhaft, aber hinreißend. Bach Mozart Beethoven.
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