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Beschreibung
Einleitung: Experimentalismus - ein alter Name für einige neue Denkweisen
Der Experimentalismus ist alt und erfindet sich immer wieder neu. Zwischen wissenschaftlicher Neugier und Objektivitätsstreben, der kulturellen Faszination für abweichende Lebensformen und politischer Krisenrhetorik steht er für vielfältige Konjunkturen. Bereits 1927 hatte der Philosoph John Dewey den Begriff des "?demokratischen Experimentalismus?" geprägt. Für ihn beruhte Erkenntnis auf Erfahrungen, die aus Krisenmomenten hervorgehen. Dieses Buch fragt, welche Schlüsse aus Deweys Sozialphilosophie für die Gegenwart gezogen werden können. Es zeigt, wie ein soziologischer Experimentalismus den Weg von einer Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft bereitet, die Ungewissheit als notwendigen Ausgangspunkt jeder forschenden Praxis versteht.
Ende der 1950er Jahre tauchte das Experiment in besonders erhöhter Frequenz in Politik und Medien auf. "?Keine Experimente?!?" rief Konrad Adenauer 1957 einer verunsicherten westdeutschen Bevölkerung zu. Das ungewollte Experiment wurde mit der Wahl der SPD identifiziert, deren Ostpolitik in der Phase des Kalten Krieges aus Sicht der Christdemokraten zu einer politischen Destabilisierung der Bundesrepublik führen würde. Der Imperativ machte das Experiment zum politischen Gegner von normativen Setzungen, die Gewissheit und Stabilität versprachen. Nach einer Phase der relativen Rezession schossen die Koeffizienten Ende der 1980er Jahre erneut in die Höhe und bleiben seit den 1990er Jahren unverändert hoch. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde zweiunddreißig Jahre später das "?realsozialistische Experiment?" ein für allemal für gescheitert erklärt und neue Unsicherheiten in den Dienst des Experiments gestellt. Der Super-GAU, die Reaktorkatastrophe des Kernkraftwerkes im sowjetischen Tschernobyl 1986 lenkte die Aufmerksamkeit auf die lebensbedrohlichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und damit auf Experimentalanordnungen ganz anderer Qualität. Ihre unerwünschten Nebenfolgen warfen ein alarmierendes Licht auf die Grenzen des Wissens und die unvorhersehbaren Effekte des Nichtwissens, das jedem Experiment innewohnt. Weitere Technik- und Umweltkatastrophen machten Schlagzeilen, auf die, wie zuletzt im Fall des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima 2011, auch eine kurzfristige Neuorientierung politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Programmatiken erfolgte. Ergänzend zu diesen an Technikkatastrophen orientierten Debatten über den Laborcharakter der Industriegesellschaften wurden die Verwerfungen des Experiments in Kontext der Kolonialgeschichte offenkundig. So bemerken Andreas Eckert und Albert Wirz: "?Schließlich dienten überseeische Beziehungen auch als Laboratorien der Moderne, in denen sich Missionare, Lehrer und Ärzte frei von Eingrenzungen der europäischen Gesellschaftsordnung >?experimentell?< zu betätigen vermochten, wobei die Ergebnisse dieser Experimente häufig wiederum ganz konkrete Effekte für die Metropole haben konnten.?"
Im Gegensatz zu seiner vergleichsweise fatalen Geschichte fällt heute eine durchgängig positive Deutung des Experiments in Kunst und Kultur auf. Kaum ein Medienbeitrag, der nicht den experimentellen Charakter künstlerischer Produktionsformen lobend hervorhebt; kaum eine künstlerische Selbstdarstellung, die nicht ihre unabgeschlossene, abenteuerliche, riskierte Handlungsorientierung betont, da nur diese, so die unterschwellige These, schließlich Neues zu erfinden vermag. Kritiker einer "?versteinerten?" Bürokratie- und Dienstleistungsgesellschaft heben ihre Praktiken der symbolischen Grenzüberschreitung hervor, die, wie Pierre Bourdieu das einst genannt hat, als "?Institutionalisierung der Anomie?" längst als traditionsreicher Traditionsbruch etabliert ist. Der kulturalisierte Experimentalismus erinnert damit zugleich an die Ausgangsthese des Kulturbegriffes selbst: Kultur als vom Menschen gelenkte Umwelteinwirkung, als eine Praxis also, die jedes forschende Tun grundsätzlich einbezieht. Und je nachdem, wie sicher sich Politik oder Wirtschaft im Sattel fühlen, lässt man sich auch dort auf experimentelle Aushandlungsformen politischer Willensbildung ein. Dies betrifft insbesondere das Feld der partizipativen Demokratiebewegungen, der sogenannten Bürgerwissenschaften ("?citizen science?") und solcher Organisa-tionsformen, die eine Verbesserung zivilgesellschaftlicher Kooperationen und öffentlicher Mitbestimmung anstreben.
Analog zu diesen Entwicklungen schien es naheliegend, wie es Wolfgang Krohn und Johannes Weyer in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 1989 getan haben, anschließend an Ulrich Becks Proklamation der "?Risikogesellschaft?" (1986) die "?Gesellschaft als Labor?" zu bezeichnen. Die soziologische Reflexion der bedrohlichen Seiten des Experiments stand zu Beginn der 1960er und erst recht in den 1980er Jahren noch für die zeitdiagnostische Entfremdungsthese zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Experiment wurde an eine Soziologie als Krisenwissenschaft gekoppelt, welche die Aporien eines übersteigerten Technikoptimismus kritisch begleitete. Erst seit den 1990er Jahren wird diese Laborsituation auch in den Sozialwissenschaften gleichsam kulturalisiert, indem sie nicht nur die gefährdenden, sondern auch die produktiven Aspekte des Experimentierens zum Zwecke der Stärkung gesellschaftspolitischer Akteurskompetenzen reflektieren. Die Wiederentdeckung mündiger, streitbarer und kompetenter Akteure leitete den Beginn der Umstellung der Soziologie von der Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft ein, um die es in dem vorliegenden Buch geht.
Krisenwissenschaften, die sich als "?kritische Wissenschaften?" verstehen, beharren auf einer epistemischen Außenposition, die das Beobachten von Gesellschaft von vermeintlich neutralem Boden aus unternimmt. Dies war lange Zeit die Rolle der Soziologie. Doch im Zeitalter von Klimawandel und Biodiversitätsverlust, von Digitalisierung und Globalisierung, andauern-den Bürgerkriegen und Finanzkrisen haben NaturwissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und ÖkonomInnen der Soziologie den Rang als erste Krisenwissenschaft der Moderne abgelaufen. Auf die Nebenränge der Kulturkritik geschoben, schmollt das Fach und sinniert in eige-nen Krisendebatten über gesellschaftliche Relevanz und Funktion. Doch wenn es stimmt, dass wir in einem fortdauernden "?Realexperiment?" leben, stellt sich die Frage, was in dieser Situation das Alleinstellungsmerkmal des Faches ausmacht. Die kulturkritische Pose allein genügt nicht, um die epistemischen Beiträge des Experiments und seine produktiven Irritationseffekte langfristig sicher zu stellen.
Niemand wusste dies besser als William James. In seiner berühmten Vorlesung von 1906 hatte James den Pragmatismus "?einen neuen Namen für einige alte Denkweisen?" genannt. Mit dieser - für James untypisch bescheiden anmutenden - Definition wollte der populäre Protagonist der pragmatistischen Bewegung die Befürchtungen seiner Kritiker dämpfen, der Pragmatismus würde sämtliche normativen Bestände der Erkenntnistheorie in der Folge von Aristoteles, Descartes und Kant abschaffen wollen. Um die Grundlagen des Pragmatismus zu verstehen, empfahl James seinen Hörern die Aufsatzsammlung seines in Duktus und Auftreten weitaus zurückhaltenderen jüngeren Kollegen John Dewey. Diese trug den Titel "?Essays in logical Theory?". Die Essays bildeten den Ausgangspunkt für das, was der mittlerweile international bekannte Dewey 1938 in "?Logic. The Theory of Inquiry?" zu einer Forschungstheorie ausprägte, die Dewey als "?Experimentalismus?" bezeichnete. Dewey orientierte sich an der Physik und nahm das Experiment wortwörtlich: als erfahrungsbasierte und operationale Umwandlung von Nichtwissen zu Wissen, inspiriert durch die instrumentellen Verfahrensweisen des naturwissenschaftlichen Experiments. Nichtwissen, also Unsicherheit und Krisensituationen, ist demzufolge nicht Problem, sondern Anstoß für problemlösendes Handeln. Deweys These, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Unternehmung, muss eine Soziologie tangieren, die sich jenseits ihrer Funktion als Krisenwissenschaft der Moderne auch als Verwalterin gesellschaftlicher Selbstreflexion mit problemlösendem Anspruch versteht. Sie stellt eine Soziologie, die sich als "?Erfahrungswissenschaft?" versteht, vor die Herausforderung, sich auf Zustände des Nichtwissens zurückzubesinnen, von denen ausgehend neue Erkenntnisse erst exploriert werden können. Die Konsequenzen dieser These für die Soziologie können jedoch nur dann erfasst werden, wenn das Experiment nicht nur als zu beobachtende Sozialfigur, sondern zugleich als Mittel zur Generierung auch der eigenen Wissensproduktion definiert wird. Neben den daraus abzuleitenden transdisziplinären Gewinnen eines solchermaßen soziologisierten Experimentalismus wird damit auch das Desiderat nach einer Wissenschaftstheorie der Soziologie, oder allgemeiner, einer "?Wissenschaftssoziologie der Soziologie?" aufgegriffen. Damit nehme ich zugleich Bezug auf ein klassisches soziologisches Problem, das seit der Entstehungsphase des Faches einer gründlichen Auseinandersetzung harrt.
Problemstellung
Der Begriff des Experiments verweist im Englischen, aber auch im Deutschen semantisch auf die Verbindung von "?Erfahrung?" und "?operationalem Handeln?" in Form des Prüfens, Ausprobierens, Testens. Im Französischen gibt es sogar nur einen Begriff: "?Faire une expérience?" bedeutet zugleich "?ein Experiment durchführen?" sowie "?eine Erfahrung machen?". Diese Doppelseitigkeit von Tun und Widerfahren eröffnet einen kritischen Blick auf eine Soziologie, die der deutsche Disziplinengründer Max Weber einst als "?Erfahrungswissenschaft?" definiert hat. Im Experiment, so hatte Webers und Deweys Zeitgenosse der Quantenphysiker Werner Heisenberg gezeigt, konstituiert die Beobachtung und die an sie gekoppelten Untersuchungsinstrumente den Untersuchungsgegenstand und das aus ihm hervortretende...
Der Experimentalismus ist alt und erfindet sich immer wieder neu. Zwischen wissenschaftlicher Neugier und Objektivitätsstreben, der kulturellen Faszination für abweichende Lebensformen und politischer Krisenrhetorik steht er für vielfältige Konjunkturen. Bereits 1927 hatte der Philosoph John Dewey den Begriff des "?demokratischen Experimentalismus?" geprägt. Für ihn beruhte Erkenntnis auf Erfahrungen, die aus Krisenmomenten hervorgehen. Dieses Buch fragt, welche Schlüsse aus Deweys Sozialphilosophie für die Gegenwart gezogen werden können. Es zeigt, wie ein soziologischer Experimentalismus den Weg von einer Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft bereitet, die Ungewissheit als notwendigen Ausgangspunkt jeder forschenden Praxis versteht.
Ende der 1950er Jahre tauchte das Experiment in besonders erhöhter Frequenz in Politik und Medien auf. "?Keine Experimente?!?" rief Konrad Adenauer 1957 einer verunsicherten westdeutschen Bevölkerung zu. Das ungewollte Experiment wurde mit der Wahl der SPD identifiziert, deren Ostpolitik in der Phase des Kalten Krieges aus Sicht der Christdemokraten zu einer politischen Destabilisierung der Bundesrepublik führen würde. Der Imperativ machte das Experiment zum politischen Gegner von normativen Setzungen, die Gewissheit und Stabilität versprachen. Nach einer Phase der relativen Rezession schossen die Koeffizienten Ende der 1980er Jahre erneut in die Höhe und bleiben seit den 1990er Jahren unverändert hoch. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde zweiunddreißig Jahre später das "?realsozialistische Experiment?" ein für allemal für gescheitert erklärt und neue Unsicherheiten in den Dienst des Experiments gestellt. Der Super-GAU, die Reaktorkatastrophe des Kernkraftwerkes im sowjetischen Tschernobyl 1986 lenkte die Aufmerksamkeit auf die lebensbedrohlichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und damit auf Experimentalanordnungen ganz anderer Qualität. Ihre unerwünschten Nebenfolgen warfen ein alarmierendes Licht auf die Grenzen des Wissens und die unvorhersehbaren Effekte des Nichtwissens, das jedem Experiment innewohnt. Weitere Technik- und Umweltkatastrophen machten Schlagzeilen, auf die, wie zuletzt im Fall des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima 2011, auch eine kurzfristige Neuorientierung politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Programmatiken erfolgte. Ergänzend zu diesen an Technikkatastrophen orientierten Debatten über den Laborcharakter der Industriegesellschaften wurden die Verwerfungen des Experiments in Kontext der Kolonialgeschichte offenkundig. So bemerken Andreas Eckert und Albert Wirz: "?Schließlich dienten überseeische Beziehungen auch als Laboratorien der Moderne, in denen sich Missionare, Lehrer und Ärzte frei von Eingrenzungen der europäischen Gesellschaftsordnung >?experimentell?< zu betätigen vermochten, wobei die Ergebnisse dieser Experimente häufig wiederum ganz konkrete Effekte für die Metropole haben konnten.?"
Im Gegensatz zu seiner vergleichsweise fatalen Geschichte fällt heute eine durchgängig positive Deutung des Experiments in Kunst und Kultur auf. Kaum ein Medienbeitrag, der nicht den experimentellen Charakter künstlerischer Produktionsformen lobend hervorhebt; kaum eine künstlerische Selbstdarstellung, die nicht ihre unabgeschlossene, abenteuerliche, riskierte Handlungsorientierung betont, da nur diese, so die unterschwellige These, schließlich Neues zu erfinden vermag. Kritiker einer "?versteinerten?" Bürokratie- und Dienstleistungsgesellschaft heben ihre Praktiken der symbolischen Grenzüberschreitung hervor, die, wie Pierre Bourdieu das einst genannt hat, als "?Institutionalisierung der Anomie?" längst als traditionsreicher Traditionsbruch etabliert ist. Der kulturalisierte Experimentalismus erinnert damit zugleich an die Ausgangsthese des Kulturbegriffes selbst: Kultur als vom Menschen gelenkte Umwelteinwirkung, als eine Praxis also, die jedes forschende Tun grundsätzlich einbezieht. Und je nachdem, wie sicher sich Politik oder Wirtschaft im Sattel fühlen, lässt man sich auch dort auf experimentelle Aushandlungsformen politischer Willensbildung ein. Dies betrifft insbesondere das Feld der partizipativen Demokratiebewegungen, der sogenannten Bürgerwissenschaften ("?citizen science?") und solcher Organisa-tionsformen, die eine Verbesserung zivilgesellschaftlicher Kooperationen und öffentlicher Mitbestimmung anstreben.
Analog zu diesen Entwicklungen schien es naheliegend, wie es Wolfgang Krohn und Johannes Weyer in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 1989 getan haben, anschließend an Ulrich Becks Proklamation der "?Risikogesellschaft?" (1986) die "?Gesellschaft als Labor?" zu bezeichnen. Die soziologische Reflexion der bedrohlichen Seiten des Experiments stand zu Beginn der 1960er und erst recht in den 1980er Jahren noch für die zeitdiagnostische Entfremdungsthese zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Experiment wurde an eine Soziologie als Krisenwissenschaft gekoppelt, welche die Aporien eines übersteigerten Technikoptimismus kritisch begleitete. Erst seit den 1990er Jahren wird diese Laborsituation auch in den Sozialwissenschaften gleichsam kulturalisiert, indem sie nicht nur die gefährdenden, sondern auch die produktiven Aspekte des Experimentierens zum Zwecke der Stärkung gesellschaftspolitischer Akteurskompetenzen reflektieren. Die Wiederentdeckung mündiger, streitbarer und kompetenter Akteure leitete den Beginn der Umstellung der Soziologie von der Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft ein, um die es in dem vorliegenden Buch geht.
Krisenwissenschaften, die sich als "?kritische Wissenschaften?" verstehen, beharren auf einer epistemischen Außenposition, die das Beobachten von Gesellschaft von vermeintlich neutralem Boden aus unternimmt. Dies war lange Zeit die Rolle der Soziologie. Doch im Zeitalter von Klimawandel und Biodiversitätsverlust, von Digitalisierung und Globalisierung, andauern-den Bürgerkriegen und Finanzkrisen haben NaturwissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und ÖkonomInnen der Soziologie den Rang als erste Krisenwissenschaft der Moderne abgelaufen. Auf die Nebenränge der Kulturkritik geschoben, schmollt das Fach und sinniert in eige-nen Krisendebatten über gesellschaftliche Relevanz und Funktion. Doch wenn es stimmt, dass wir in einem fortdauernden "?Realexperiment?" leben, stellt sich die Frage, was in dieser Situation das Alleinstellungsmerkmal des Faches ausmacht. Die kulturkritische Pose allein genügt nicht, um die epistemischen Beiträge des Experiments und seine produktiven Irritationseffekte langfristig sicher zu stellen.
Niemand wusste dies besser als William James. In seiner berühmten Vorlesung von 1906 hatte James den Pragmatismus "?einen neuen Namen für einige alte Denkweisen?" genannt. Mit dieser - für James untypisch bescheiden anmutenden - Definition wollte der populäre Protagonist der pragmatistischen Bewegung die Befürchtungen seiner Kritiker dämpfen, der Pragmatismus würde sämtliche normativen Bestände der Erkenntnistheorie in der Folge von Aristoteles, Descartes und Kant abschaffen wollen. Um die Grundlagen des Pragmatismus zu verstehen, empfahl James seinen Hörern die Aufsatzsammlung seines in Duktus und Auftreten weitaus zurückhaltenderen jüngeren Kollegen John Dewey. Diese trug den Titel "?Essays in logical Theory?". Die Essays bildeten den Ausgangspunkt für das, was der mittlerweile international bekannte Dewey 1938 in "?Logic. The Theory of Inquiry?" zu einer Forschungstheorie ausprägte, die Dewey als "?Experimentalismus?" bezeichnete. Dewey orientierte sich an der Physik und nahm das Experiment wortwörtlich: als erfahrungsbasierte und operationale Umwandlung von Nichtwissen zu Wissen, inspiriert durch die instrumentellen Verfahrensweisen des naturwissenschaftlichen Experiments. Nichtwissen, also Unsicherheit und Krisensituationen, ist demzufolge nicht Problem, sondern Anstoß für problemlösendes Handeln. Deweys These, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Unternehmung, muss eine Soziologie tangieren, die sich jenseits ihrer Funktion als Krisenwissenschaft der Moderne auch als Verwalterin gesellschaftlicher Selbstreflexion mit problemlösendem Anspruch versteht. Sie stellt eine Soziologie, die sich als "?Erfahrungswissenschaft?" versteht, vor die Herausforderung, sich auf Zustände des Nichtwissens zurückzubesinnen, von denen ausgehend neue Erkenntnisse erst exploriert werden können. Die Konsequenzen dieser These für die Soziologie können jedoch nur dann erfasst werden, wenn das Experiment nicht nur als zu beobachtende Sozialfigur, sondern zugleich als Mittel zur Generierung auch der eigenen Wissensproduktion definiert wird. Neben den daraus abzuleitenden transdisziplinären Gewinnen eines solchermaßen soziologisierten Experimentalismus wird damit auch das Desiderat nach einer Wissenschaftstheorie der Soziologie, oder allgemeiner, einer "?Wissenschaftssoziologie der Soziologie?" aufgegriffen. Damit nehme ich zugleich Bezug auf ein klassisches soziologisches Problem, das seit der Entstehungsphase des Faches einer gründlichen Auseinandersetzung harrt.
Problemstellung
Der Begriff des Experiments verweist im Englischen, aber auch im Deutschen semantisch auf die Verbindung von "?Erfahrung?" und "?operationalem Handeln?" in Form des Prüfens, Ausprobierens, Testens. Im Französischen gibt es sogar nur einen Begriff: "?Faire une expérience?" bedeutet zugleich "?ein Experiment durchführen?" sowie "?eine Erfahrung machen?". Diese Doppelseitigkeit von Tun und Widerfahren eröffnet einen kritischen Blick auf eine Soziologie, die der deutsche Disziplinengründer Max Weber einst als "?Erfahrungswissenschaft?" definiert hat. Im Experiment, so hatte Webers und Deweys Zeitgenosse der Quantenphysiker Werner Heisenberg gezeigt, konstituiert die Beobachtung und die an sie gekoppelten Untersuchungsinstrumente den Untersuchungsgegenstand und das aus ihm hervortretende...
Einleitung: Experimentalismus - ein alter Name für einige neue Denkweisen
Der Experimentalismus ist alt und erfindet sich immer wieder neu. Zwischen wissenschaftlicher Neugier und Objektivitätsstreben, der kulturellen Faszination für abweichende Lebensformen und politischer Krisenrhetorik steht er für vielfältige Konjunkturen. Bereits 1927 hatte der Philosoph John Dewey den Begriff des "?demokratischen Experimentalismus?" geprägt. Für ihn beruhte Erkenntnis auf Erfahrungen, die aus Krisenmomenten hervorgehen. Dieses Buch fragt, welche Schlüsse aus Deweys Sozialphilosophie für die Gegenwart gezogen werden können. Es zeigt, wie ein soziologischer Experimentalismus den Weg von einer Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft bereitet, die Ungewissheit als notwendigen Ausgangspunkt jeder forschenden Praxis versteht.
Ende der 1950er Jahre tauchte das Experiment in besonders erhöhter Frequenz in Politik und Medien auf. "?Keine Experimente?!?" rief Konrad Adenauer 1957 einer verunsicherten westdeutschen Bevölkerung zu. Das ungewollte Experiment wurde mit der Wahl der SPD identifiziert, deren Ostpolitik in der Phase des Kalten Krieges aus Sicht der Christdemokraten zu einer politischen Destabilisierung der Bundesrepublik führen würde. Der Imperativ machte das Experiment zum politischen Gegner von normativen Setzungen, die Gewissheit und Stabilität versprachen. Nach einer Phase der relativen Rezession schossen die Koeffizienten Ende der 1980er Jahre erneut in die Höhe und bleiben seit den 1990er Jahren unverändert hoch. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde zweiunddreißig Jahre später das "?realsozialistische Experiment?" ein für allemal für gescheitert erklärt und neue Unsicherheiten in den Dienst des Experiments gestellt. Der Super-GAU, die Reaktorkatastrophe des Kernkraftwerkes im sowjetischen Tschernobyl 1986 lenkte die Aufmerksamkeit auf die lebensbedrohlichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und damit auf Experimentalanordnungen ganz anderer Qualität. Ihre unerwünschten Nebenfolgen warfen ein alarmierendes Licht auf die Grenzen des Wissens und die unvorhersehbaren Effekte des Nichtwissens, das jedem Experiment innewohnt. Weitere Technik- und Umweltkatastrophen machten Schlagzeilen, auf die, wie zuletzt im Fall des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima 2011, auch eine kurzfristige Neuorientierung politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Programmatiken erfolgte. Ergänzend zu diesen an Technikkatastrophen orientierten Debatten über den Laborcharakter der Industriegesellschaften wurden die Verwerfungen des Experiments in Kontext der Kolonialgeschichte offenkundig. So bemerken Andreas Eckert und Albert Wirz: "?Schließlich dienten überseeische Beziehungen auch als Laboratorien der Moderne, in denen sich Missionare, Lehrer und Ärzte frei von Eingrenzungen der europäischen Gesellschaftsordnung >?experimentell?< zu betätigen vermochten, wobei die Ergebnisse dieser Experimente häufig wiederum ganz konkrete Effekte für die Metropole haben konnten.?"
Im Gegensatz zu seiner vergleichsweise fatalen Geschichte fällt heute eine durchgängig positive Deutung des Experiments in Kunst und Kultur auf. Kaum ein Medienbeitrag, der nicht den experimentellen Charakter künstlerischer Produktionsformen lobend hervorhebt; kaum eine künstlerische Selbstdarstellung, die nicht ihre unabgeschlossene, abenteuerliche, riskierte Handlungsorientierung betont, da nur diese, so die unterschwellige These, schließlich Neues zu erfinden vermag. Kritiker einer "?versteinerten?" Bürokratie- und Dienstleistungsgesellschaft heben ihre Praktiken der symbolischen Grenzüberschreitung hervor, die, wie Pierre Bourdieu das einst genannt hat, als "?Institutionalisierung der Anomie?" längst als traditionsreicher Traditionsbruch etabliert ist. Der kulturalisierte Experimentalismus erinnert damit zugleich an die Ausgangsthese des Kulturbegriffes selbst: Kultur als vom Menschen gelenkte Umwelteinwirkung, als eine Praxis also, die jedes forschende Tun grundsätzlich einbezieht. Und je nachdem, wie sicher sich Politik oder Wirtschaft im Sattel fühlen, lässt man sich auch dort auf experimentelle Aushandlungsformen politischer Willensbildung ein. Dies betrifft insbesondere das Feld der partizipativen Demokratiebewegungen, der sogenannten Bürgerwissenschaften ("?citizen science?") und solcher Organisa-tionsformen, die eine Verbesserung zivilgesellschaftlicher Kooperationen und öffentlicher Mitbestimmung anstreben.
Analog zu diesen Entwicklungen schien es naheliegend, wie es Wolfgang Krohn und Johannes Weyer in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 1989 getan haben, anschließend an Ulrich Becks Proklamation der "?Risikogesellschaft?" (1986) die "?Gesellschaft als Labor?" zu bezeichnen. Die soziologische Reflexion der bedrohlichen Seiten des Experiments stand zu Beginn der 1960er und erst recht in den 1980er Jahren noch für die zeitdiagnostische Entfremdungsthese zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Experiment wurde an eine Soziologie als Krisenwissenschaft gekoppelt, welche die Aporien eines übersteigerten Technikoptimismus kritisch begleitete. Erst seit den 1990er Jahren wird diese Laborsituation auch in den Sozialwissenschaften gleichsam kulturalisiert, indem sie nicht nur die gefährdenden, sondern auch die produktiven Aspekte des Experimentierens zum Zwecke der Stärkung gesellschaftspolitischer Akteurskompetenzen reflektieren. Die Wiederentdeckung mündiger, streitbarer und kompetenter Akteure leitete den Beginn der Umstellung der Soziologie von der Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft ein, um die es in dem vorliegenden Buch geht.
Krisenwissenschaften, die sich als "?kritische Wissenschaften?" verstehen, beharren auf einer epistemischen Außenposition, die das Beobachten von Gesellschaft von vermeintlich neutralem Boden aus unternimmt. Dies war lange Zeit die Rolle der Soziologie. Doch im Zeitalter von Klimawandel und Biodiversitätsverlust, von Digitalisierung und Globalisierung, andauern-den Bürgerkriegen und Finanzkrisen haben NaturwissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und ÖkonomInnen der Soziologie den Rang als erste Krisenwissenschaft der Moderne abgelaufen. Auf die Nebenränge der Kulturkritik geschoben, schmollt das Fach und sinniert in eige-nen Krisendebatten über gesellschaftliche Relevanz und Funktion. Doch wenn es stimmt, dass wir in einem fortdauernden "?Realexperiment?" leben, stellt sich die Frage, was in dieser Situation das Alleinstellungsmerkmal des Faches ausmacht. Die kulturkritische Pose allein genügt nicht, um die epistemischen Beiträge des Experiments und seine produktiven Irritationseffekte langfristig sicher zu stellen.
Niemand wusste dies besser als William James. In seiner berühmten Vorlesung von 1906 hatte James den Pragmatismus "?einen neuen Namen für einige alte Denkweisen?" genannt. Mit dieser - für James untypisch bescheiden anmutenden - Definition wollte der populäre Protagonist der pragmatistischen Bewegung die Befürchtungen seiner Kritiker dämpfen, der Pragmatismus würde sämtliche normativen Bestände der Erkenntnistheorie in der Folge von Aristoteles, Descartes und Kant abschaffen wollen. Um die Grundlagen des Pragmatismus zu verstehen, empfahl James seinen Hörern die Aufsatzsammlung seines in Duktus und Auftreten weitaus zurückhaltenderen jüngeren Kollegen John Dewey. Diese trug den Titel "?Essays in logical Theory?". Die Essays bildeten den Ausgangspunkt für das, was der mittlerweile international bekannte Dewey 1938 in "?Logic. The Theory of Inquiry?" zu einer Forschungstheorie ausprägte, die Dewey als "?Experimentalismus?" bezeichnete. Dewey orientierte sich an der Physik und nahm das Experiment wortwörtlich: als erfahrungsbasierte und operationale Umwandlung von Nichtwissen zu Wissen, inspiriert durch die instrumentellen Verfahrensweisen des naturwissenschaftlichen Experiments. Nichtwissen, also Unsicherheit und Krisensituationen, ist demzufolge nicht Problem, sondern Anstoß für problemlösendes Handeln. Deweys These, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Unternehmung, muss eine Soziologie tangieren, die sich jenseits ihrer Funktion als Krisenwissenschaft der Moderne auch als Verwalterin gesellschaftlicher Selbstreflexion mit problemlösendem Anspruch versteht. Sie stellt eine Soziologie, die sich als "?Erfahrungswissenschaft?" versteht, vor die Herausforderung, sich auf Zustände des Nichtwissens zurückzubesinnen, von denen ausgehend neue Erkenntnisse erst exploriert werden können. Die Konsequenzen dieser These für die Soziologie können jedoch nur dann erfasst werden, wenn das Experiment nicht nur als zu beobachtende Sozialfigur, sondern zugleich als Mittel zur Generierung auch der eigenen Wissensproduktion definiert wird. Neben den daraus abzuleitenden transdisziplinären Gewinnen eines solchermaßen soziologisierten Experimentalismus wird damit auch das Desiderat nach einer Wissenschaftstheorie der Soziologie, oder allgemeiner, einer "?Wissenschaftssoziologie der Soziologie?" aufgegriffen. Damit nehme ich zugleich Bezug auf ein klassisches soziologisches Problem, das seit der Entstehungsphase des Faches einer gründlichen Auseinandersetzung harrt.
Problemstellung
Der Begriff des Experiments verweist im Englischen, aber auch im Deutschen semantisch auf die Verbindung von "?Erfahrung?" und "?operationalem Handeln?" in Form des Prüfens, Ausprobierens, Testens. Im Französischen gibt es sogar nur einen Begriff: "?Faire une expérience?" bedeutet zugleich "?ein Experiment durchführen?" sowie "?eine Erfahrung machen?". Diese Doppelseitigkeit von Tun und Widerfahren eröffnet einen kritischen Blick auf eine Soziologie, die der deutsche Disziplinengründer Max Weber einst als "?Erfahrungswissenschaft?" definiert hat. Im Experiment, so hatte Webers und Deweys Zeitgenosse der Quantenphysiker Werner Heisenberg gezeigt, konstituiert die Beobachtung und die an sie gekoppelten Untersuchungsinstrumente den Untersuchungsgegenstand und das aus ihm hervortretende...
Der Experimentalismus ist alt und erfindet sich immer wieder neu. Zwischen wissenschaftlicher Neugier und Objektivitätsstreben, der kulturellen Faszination für abweichende Lebensformen und politischer Krisenrhetorik steht er für vielfältige Konjunkturen. Bereits 1927 hatte der Philosoph John Dewey den Begriff des "?demokratischen Experimentalismus?" geprägt. Für ihn beruhte Erkenntnis auf Erfahrungen, die aus Krisenmomenten hervorgehen. Dieses Buch fragt, welche Schlüsse aus Deweys Sozialphilosophie für die Gegenwart gezogen werden können. Es zeigt, wie ein soziologischer Experimentalismus den Weg von einer Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft bereitet, die Ungewissheit als notwendigen Ausgangspunkt jeder forschenden Praxis versteht.
Ende der 1950er Jahre tauchte das Experiment in besonders erhöhter Frequenz in Politik und Medien auf. "?Keine Experimente?!?" rief Konrad Adenauer 1957 einer verunsicherten westdeutschen Bevölkerung zu. Das ungewollte Experiment wurde mit der Wahl der SPD identifiziert, deren Ostpolitik in der Phase des Kalten Krieges aus Sicht der Christdemokraten zu einer politischen Destabilisierung der Bundesrepublik führen würde. Der Imperativ machte das Experiment zum politischen Gegner von normativen Setzungen, die Gewissheit und Stabilität versprachen. Nach einer Phase der relativen Rezession schossen die Koeffizienten Ende der 1980er Jahre erneut in die Höhe und bleiben seit den 1990er Jahren unverändert hoch. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde zweiunddreißig Jahre später das "?realsozialistische Experiment?" ein für allemal für gescheitert erklärt und neue Unsicherheiten in den Dienst des Experiments gestellt. Der Super-GAU, die Reaktorkatastrophe des Kernkraftwerkes im sowjetischen Tschernobyl 1986 lenkte die Aufmerksamkeit auf die lebensbedrohlichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und damit auf Experimentalanordnungen ganz anderer Qualität. Ihre unerwünschten Nebenfolgen warfen ein alarmierendes Licht auf die Grenzen des Wissens und die unvorhersehbaren Effekte des Nichtwissens, das jedem Experiment innewohnt. Weitere Technik- und Umweltkatastrophen machten Schlagzeilen, auf die, wie zuletzt im Fall des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima 2011, auch eine kurzfristige Neuorientierung politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Programmatiken erfolgte. Ergänzend zu diesen an Technikkatastrophen orientierten Debatten über den Laborcharakter der Industriegesellschaften wurden die Verwerfungen des Experiments in Kontext der Kolonialgeschichte offenkundig. So bemerken Andreas Eckert und Albert Wirz: "?Schließlich dienten überseeische Beziehungen auch als Laboratorien der Moderne, in denen sich Missionare, Lehrer und Ärzte frei von Eingrenzungen der europäischen Gesellschaftsordnung >?experimentell?< zu betätigen vermochten, wobei die Ergebnisse dieser Experimente häufig wiederum ganz konkrete Effekte für die Metropole haben konnten.?"
Im Gegensatz zu seiner vergleichsweise fatalen Geschichte fällt heute eine durchgängig positive Deutung des Experiments in Kunst und Kultur auf. Kaum ein Medienbeitrag, der nicht den experimentellen Charakter künstlerischer Produktionsformen lobend hervorhebt; kaum eine künstlerische Selbstdarstellung, die nicht ihre unabgeschlossene, abenteuerliche, riskierte Handlungsorientierung betont, da nur diese, so die unterschwellige These, schließlich Neues zu erfinden vermag. Kritiker einer "?versteinerten?" Bürokratie- und Dienstleistungsgesellschaft heben ihre Praktiken der symbolischen Grenzüberschreitung hervor, die, wie Pierre Bourdieu das einst genannt hat, als "?Institutionalisierung der Anomie?" längst als traditionsreicher Traditionsbruch etabliert ist. Der kulturalisierte Experimentalismus erinnert damit zugleich an die Ausgangsthese des Kulturbegriffes selbst: Kultur als vom Menschen gelenkte Umwelteinwirkung, als eine Praxis also, die jedes forschende Tun grundsätzlich einbezieht. Und je nachdem, wie sicher sich Politik oder Wirtschaft im Sattel fühlen, lässt man sich auch dort auf experimentelle Aushandlungsformen politischer Willensbildung ein. Dies betrifft insbesondere das Feld der partizipativen Demokratiebewegungen, der sogenannten Bürgerwissenschaften ("?citizen science?") und solcher Organisa-tionsformen, die eine Verbesserung zivilgesellschaftlicher Kooperationen und öffentlicher Mitbestimmung anstreben.
Analog zu diesen Entwicklungen schien es naheliegend, wie es Wolfgang Krohn und Johannes Weyer in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 1989 getan haben, anschließend an Ulrich Becks Proklamation der "?Risikogesellschaft?" (1986) die "?Gesellschaft als Labor?" zu bezeichnen. Die soziologische Reflexion der bedrohlichen Seiten des Experiments stand zu Beginn der 1960er und erst recht in den 1980er Jahren noch für die zeitdiagnostische Entfremdungsthese zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Experiment wurde an eine Soziologie als Krisenwissenschaft gekoppelt, welche die Aporien eines übersteigerten Technikoptimismus kritisch begleitete. Erst seit den 1990er Jahren wird diese Laborsituation auch in den Sozialwissenschaften gleichsam kulturalisiert, indem sie nicht nur die gefährdenden, sondern auch die produktiven Aspekte des Experimentierens zum Zwecke der Stärkung gesellschaftspolitischer Akteurskompetenzen reflektieren. Die Wiederentdeckung mündiger, streitbarer und kompetenter Akteure leitete den Beginn der Umstellung der Soziologie von der Krisen- zu einer Erfahrungswissenschaft ein, um die es in dem vorliegenden Buch geht.
Krisenwissenschaften, die sich als "?kritische Wissenschaften?" verstehen, beharren auf einer epistemischen Außenposition, die das Beobachten von Gesellschaft von vermeintlich neutralem Boden aus unternimmt. Dies war lange Zeit die Rolle der Soziologie. Doch im Zeitalter von Klimawandel und Biodiversitätsverlust, von Digitalisierung und Globalisierung, andauern-den Bürgerkriegen und Finanzkrisen haben NaturwissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und ÖkonomInnen der Soziologie den Rang als erste Krisenwissenschaft der Moderne abgelaufen. Auf die Nebenränge der Kulturkritik geschoben, schmollt das Fach und sinniert in eige-nen Krisendebatten über gesellschaftliche Relevanz und Funktion. Doch wenn es stimmt, dass wir in einem fortdauernden "?Realexperiment?" leben, stellt sich die Frage, was in dieser Situation das Alleinstellungsmerkmal des Faches ausmacht. Die kulturkritische Pose allein genügt nicht, um die epistemischen Beiträge des Experiments und seine produktiven Irritationseffekte langfristig sicher zu stellen.
Niemand wusste dies besser als William James. In seiner berühmten Vorlesung von 1906 hatte James den Pragmatismus "?einen neuen Namen für einige alte Denkweisen?" genannt. Mit dieser - für James untypisch bescheiden anmutenden - Definition wollte der populäre Protagonist der pragmatistischen Bewegung die Befürchtungen seiner Kritiker dämpfen, der Pragmatismus würde sämtliche normativen Bestände der Erkenntnistheorie in der Folge von Aristoteles, Descartes und Kant abschaffen wollen. Um die Grundlagen des Pragmatismus zu verstehen, empfahl James seinen Hörern die Aufsatzsammlung seines in Duktus und Auftreten weitaus zurückhaltenderen jüngeren Kollegen John Dewey. Diese trug den Titel "?Essays in logical Theory?". Die Essays bildeten den Ausgangspunkt für das, was der mittlerweile international bekannte Dewey 1938 in "?Logic. The Theory of Inquiry?" zu einer Forschungstheorie ausprägte, die Dewey als "?Experimentalismus?" bezeichnete. Dewey orientierte sich an der Physik und nahm das Experiment wortwörtlich: als erfahrungsbasierte und operationale Umwandlung von Nichtwissen zu Wissen, inspiriert durch die instrumentellen Verfahrensweisen des naturwissenschaftlichen Experiments. Nichtwissen, also Unsicherheit und Krisensituationen, ist demzufolge nicht Problem, sondern Anstoß für problemlösendes Handeln. Deweys These, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Unternehmung, muss eine Soziologie tangieren, die sich jenseits ihrer Funktion als Krisenwissenschaft der Moderne auch als Verwalterin gesellschaftlicher Selbstreflexion mit problemlösendem Anspruch versteht. Sie stellt eine Soziologie, die sich als "?Erfahrungswissenschaft?" versteht, vor die Herausforderung, sich auf Zustände des Nichtwissens zurückzubesinnen, von denen ausgehend neue Erkenntnisse erst exploriert werden können. Die Konsequenzen dieser These für die Soziologie können jedoch nur dann erfasst werden, wenn das Experiment nicht nur als zu beobachtende Sozialfigur, sondern zugleich als Mittel zur Generierung auch der eigenen Wissensproduktion definiert wird. Neben den daraus abzuleitenden transdisziplinären Gewinnen eines solchermaßen soziologisierten Experimentalismus wird damit auch das Desiderat nach einer Wissenschaftstheorie der Soziologie, oder allgemeiner, einer "?Wissenschaftssoziologie der Soziologie?" aufgegriffen. Damit nehme ich zugleich Bezug auf ein klassisches soziologisches Problem, das seit der Entstehungsphase des Faches einer gründlichen Auseinandersetzung harrt.
Problemstellung
Der Begriff des Experiments verweist im Englischen, aber auch im Deutschen semantisch auf die Verbindung von "?Erfahrung?" und "?operationalem Handeln?" in Form des Prüfens, Ausprobierens, Testens. Im Französischen gibt es sogar nur einen Begriff: "?Faire une expérience?" bedeutet zugleich "?ein Experiment durchführen?" sowie "?eine Erfahrung machen?". Diese Doppelseitigkeit von Tun und Widerfahren eröffnet einen kritischen Blick auf eine Soziologie, die der deutsche Disziplinengründer Max Weber einst als "?Erfahrungswissenschaft?" definiert hat. Im Experiment, so hatte Webers und Deweys Zeitgenosse der Quantenphysiker Werner Heisenberg gezeigt, konstituiert die Beobachtung und die an sie gekoppelten Untersuchungsinstrumente den Untersuchungsgegenstand und das aus ihm hervortretende...
Details
Erscheinungsjahr: | 2018 |
---|---|
Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 474 S. |
ISBN-13: | 9783593509365 |
ISBN-10: | 3593509369 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Bogusz, Tanja |
Auflage: | 1/2018 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 220 x 150 x 33 mm |
Von/Mit: | Tanja Bogusz |
Erscheinungsdatum: | 07.09.2018 |
Gewicht: | 0,693 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2018 |
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Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 474 S. |
ISBN-13: | 9783593509365 |
ISBN-10: | 3593509369 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Bogusz, Tanja |
Auflage: | 1/2018 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 220 x 150 x 33 mm |
Von/Mit: | Tanja Bogusz |
Erscheinungsdatum: | 07.09.2018 |
Gewicht: | 0,693 kg |
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