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Es klopft
Roman
Buch von Franz Hohler
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Seit einer Stunde lag er im Bett und konnte nicht einschlafen. Auf dem R?cken nicht, auf dem Bauch nicht, auf der linken Seite nicht, und auf der rechten auch nicht. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Er war neunundf?nfzig, und gew?hnlich war er am Abend so m?de, dass er, nachdem er im Bett noch ein paar Zeilen in einem Buch gelesen hatte, die Nachttischlampe l?schte, der Frau an seiner Seite einen Gute-Nacht-Wunsch zumurmelte und nach wenigen Atemz?gen einschlief. Erst wenn ihn seine Blase um zwei oder drei Uhr weckte, konnte es vorkommen, dass er den Schlaf nicht gleich wieder fand, dann stand er auf, nahm das Buch in die Hand und schlich sich leise aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in seinen Arbeitsraum, bettete sich dort auf seine Couch und las so lange, bis ihm die Augen zufielen.
Er dachte an den morgigen Tag, es war ein Montag, das hie? dass ihn eine volle Praxis erwartete. Um halb elf waren sie beide zu Bett gegangen, nun zeigten die Leuchtziffern seiner Uhr schon fast Mitternacht, und er sah seine Ruhezeit dahinschrumpfen, denn morgens um sechs w?rde mitleidlos der Wecker klingeln. Aufstehen und ins Arbeitszimmer wechseln, mit dem Buch in der Hand? Er f?rchtete, dadurch seine Frau zu wecken, und er f?rchtete ihre Frage, ob er nicht schlafen k?nne. Warum, w?rde sie dann fragen, warum kannst du nicht schlafen? Dann m?sste er zu einer Notl?ge greifen. Manchmal, wenn ihm ein Behandlungsfehler unterlaufen war oder wenn sich eine folgenschwere Komplikation eingestellt hatte, was zum Gl?ck selten vorkam, stand der Patient nachts pl?tzlich vor ihm mit seinem ganzen Ungl?ck und wollte ihn nicht in den Schlaf entlassen. F?r solche F?e hatte er ein Sch?telchen Rohypnol in seiner Hausapotheke, aber er hasste es, wenn er sich bet?en musste, und zudem war er mit der Dosierung nie ganz sicher. Nahm er eine ganze Tablette, schlief er zwar gut ein, hatte aber gro? M?he mit dem Erwachen und musste noch lange in den Vormittag hinein mit der Wirkung k?fen, nahm er nur eine halbe Tablette, reichte diese unter Umst?en nicht zum Schlafen und gab ihm dennoch am n?sten Morgen ein dumpfes Gef?hl. Es hing von der Schwere des Problems ab, ob er die ganze oder die halbe Pille schluckte.
Und heute handelte es sich um ein schweres Problem.
Schlie?ich stand er leise auf und ging ins Badezimmer. Er nahm seine Zahnb?rste aus dem Glas, wusch es aus, f?llte es mit Wasser und nahm eine Rohypnol-Tablette aus der Wandapotheke. Einen Moment lang betrachtete er sie, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, das Glas in der einen, die Tablette in der andern Hand. Im sp?ichen Streulicht, das von drau?n hereinfiel, ging er vorsichtig zum Schreibtisch, stellte das Glas ab, legte die Pille daneben und dr?ckte den Schalter der Tischlampe.
Dann lehnte er sich zur?ck und dachte nach.
Wann genau war es gewesen? Vor 22 oder vor 23 Jahren? Er hatte es fast nicht begriffen damals, von sich selbst nicht begriffen. Nach und nach hatte er sich daran gew?hnt, dass es geschehen war; ?ern konnte er es ohnehin nicht mehr, erz?t hatte er es niemandem, die fortschreitende Zeit schob es jeden Tag etwas st?er in den Hintergrund, und so hatte er es schlie?ich f?r verj?t gehalten. Heute war ihm auf einmal klar geworden, dass es eine Verj?ung zwar in der Justiz geben mochte, niemals aber im Leben. Er mochte in mancher Hinsicht ein anderer gewesen sein seinerzeit, aber auf seiner Identit?karte stand immer noch derselbe Name, Manuel Ritter, und diese seine Identit?wurde jetzt aufgerufen. Er hatte anzutreten vor seiner eigenen Verantwortung, die hinter dem Gerichtspult sa?und mit einem H?erchen auf den Tisch schlug, wenn er zu seiner Verteidigung ausholte.
Er atmete tief ein und ?ffnete die Schublade seines Schreibtischs. Das alles war so lange her, dass er nicht mehr genau wusste, wo er den Umschlag aufbewahrt hatte.
Er zog unter Dokumenten wie seinem Dienstb?chlein, seinem Impfausweis und seinen Arbeitszeugnissen die Kopien seiner Diplome als Arzt und als Facharzt hervor, deren Originale in seiner Praxis hingen, und legte alles auf den Schreibtisch. Als er ein B?ndelchen Briefe in der Hand hielt, trat seine Frau ein und legte ihm die Hand auf die Schulter.
?Julia?, sagte er, ?du hast mich erschreckt.?
?Schau mal an?, sagte sie, ?meine Briefe.? Sie fuhr ihm mit der Hand ganz leicht ?ber die Haare. ?Besch?igt es dich, dass unser Sohn so verliebt ist??
?Tats?lich?, sagte er, ?es ist ? es ist irgendwie eigenartig, dass wir eine ganze Generation vorger?ckt sind.?
Heute hatte ihr Sohn zum ersten Mal seine neue Freundin nach Hause gebracht, von der er ihnen schon eine Weile vorgeschw?t hatte.
?Und?, fragte sie, ?was hab ich dir geschrieben??
L?elnd schaute sie auf die Briefe mit ihrer Schrift und den Briefmarken mit dem spanischen K?nig.
?Das wollte ich gerade ? das m?chte ich lieber alleine lesen?, sagte er.
Sie legte ihm die Hand wieder auf die Schulter.
?Hoffentlich kannst du dann noch schlafen?, sagte sie.
Er griff nach ihrer Hand.
?Hast du denn auch noch die Briefe von mir?? fragte er.
?Selbstverst?lich?, sagte sie, ?aber vielleicht schluckst du doch besser deine Pille. Gute Nacht, Lieber.? Sie beugte sich ?ber ihn und k?sste seinen Nacken.
Er lehnte sich zur?ck und hielt ihren Kopf mit beiden H?en.
?Gute Nacht, Julia?, sagte er.
Als sie sein Zimmer verlassen hatte, f?hlte er sich so allein, wie als Kind, wenn seine Mutter die T?r hinter sich zugezogen hatte und er im Bett die Nacht erwartete.
Dann schluckte er die ganze Tablette und trank das Glas Wasser leer.
Es waren nicht die Briefe, die er gesucht hatte.
Es war etwas anderes. Es war das einzige ?erbleibsel einer Geschichte, die ihm pl?tzlich wieder so lebhaft vor Augen stand, als sei sie gestern geschehen.
Am 5. Mai 1983 betrat Manuel Ritter auf dem Bahnhof Basel ein Erstklassabteil des Zuges nach Z?rich. Sobald er zwei freie Sitze sah, stellte er sein K?fferchen auf den einen, zog seinen Regenmantel aus, h?te ihn an den Haken dar?ber und setzte sich dann, etwas keuchend. Er hatte sich versp?t, aber beim Betreten der Bahnhofshalle war ihm auf der gro?n Abfahrtstafel aufgefallen, dass der Zug, der eigentlich schon h?e weg sein m?ssen, doch noch nicht abgefahren war, und mit einem Laufschritt war er durch die Unterf?hrung auf den Perron geeilt und eingestiegen.
Als sich der Wagen nun in Bewegung setzte, klopfte es von drau?n an sein Fenster, und eine Frau blickte ihn an, eindringlich, fast hilfesuchend, machte noch ein paar Schritte in der Fahrtrichtung, dann war sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Das ?ere Paar auf der andern Seite des Mittelgangs schaute leicht verwundert her?ber, Manuel zuckte l?elnd die Achseln und sch?ttelte den Kopf dazu.
Dann lehnte er sich zur?ck, und w?end sich der Zug ?ber verschiedene Weichen schob, als m?sse er sich seinen Weg aus der Stadt suchen, streckte ihm von einer H?erwand ein Cowboy seine durchl?cherten Schuhe entgegen, mit denen er meilenweit f?r eine Zigarette gegangen war.
Schon wurde die Minibar hereingezogen, und ein fr?hlicher S?dl?er rief ?Caf?Tee, Mineral!? durch den Wagen. Manuel konnte nicht widerstehen. Obwohl er heute sein Ma?an Koffein schon konsumiert hatte, lie?er sich einen Kaffee einschenken. Er bereute es schon nach dem ersten Schluck, lie?eine Weile die ganze H?lichkeit der Autobahnverschlingungen, Schallschutzw?e und B?rohochh?er an sich vorbeiziehen, ?ffnete dann sein K?fferchen und holte eine Mappe mit Unterlagen heraus. Er war Hals-, Nasen-, Ohrenarzt, hatte seit drei Jahren eine eigene Praxis und kam von einem Symposium ?ber Tinnitus. Zwei englische ?zte hatten am Vormittag ?ber ihre Arbeit mit Elektrostimulation berichtet, und am Nachmittag waren neue Ergebnisse medikament?ser Therapien vorgestellt und diskutiert worden. Auf beiden Gebieten hatte er wenig Ermutigendes geh?rt. Er schaute noch einmal die Tabellen mit den Prozentzahlen an und nahm die Stimme des Kondukteurs erst wahr, als sich dieser zu ihm herunterbeugte. W?end er seine entwertete Fahrkarte zur?ckerhielt, wurde an ihn offensichtlich noch eine Frage gerichtet, und auf sein ?Bitte?? wurde die Frage wiederholt, n?ich ob er sich noch nie den Kauf eines Halbtaxabonnements ?berlegt habe. Manuel murmelte, er fahre fast nie Zug, worauf ihm der Kondukteur, ein junger Blonder mit einem Ringlein im linken Ohr, entgegnete, es gen?gten schon drei solcher Fahrten innerhalb eines Jahres, damit es sich rentiere, und er gebe ihm hier einen Prospekt.
Manuel nickte und las dann statt der Tabelle den Prospekt, der ihm nebst sch?nsten Landschaften auch alle m?glichen Sonderaktionen und St?erabatte verhie? auf die einzugehen er keinen Anlass sah. Er fuhr mit seiner Frau und den Kindern regelm?g in eine Ferienwohnung im Engadin, das war sein Erholungsort im Sommer und im Winter, und wenn man eine Familie mit ihrer ganzen Winterausr?stung transportieren musste, war die Bahn f?r diese Reisen nicht geeignet. Gestern Abend hatte er seinen Wagen zum Service gebracht, deshalb hatte er heute nach Basel den Zug genommen, aber bei seiner Heimkehr w?rde das Auto bereits wieder vor seinem Haus stehen, auf seinen Garagisten war Verlass.
Als er erwachte, fuhr der Zug in Z?rich ein. Rasch versorgte er die ungelesene Mappe in seinem K?fferchen, lie?den Halbtaxprospekt liegen, nahm seinen Mantel ?ber den Arm, stieg aus und begab sich dann zum Gleis 11, auf dem die Z?ge vom rechten Ufer des Z?richsees ankamen und abfuhren. Obwohl er in Basel mit Versp?ng abgereist war, erreichte er noch den Anschluss, den er seiner Frau f?r die R?ckkehr angegeben hatte. Gerade kam der Zug an und entlie?beachtliche Menschenmengen. Es ging gegen acht Uhr abends, die Stadt stie?ihren Lockruf aus, der bis weit in die Orte der Umgebung drang und Vergn?gungen versprach, die es dort drau?n in dieser Dichte nicht gab, Filme, Musik, Tanz, Frauen, unberechenbares Leben.
Der Drang zur Stadt...
Seit einer Stunde lag er im Bett und konnte nicht einschlafen. Auf dem R?cken nicht, auf dem Bauch nicht, auf der linken Seite nicht, und auf der rechten auch nicht. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Er war neunundf?nfzig, und gew?hnlich war er am Abend so m?de, dass er, nachdem er im Bett noch ein paar Zeilen in einem Buch gelesen hatte, die Nachttischlampe l?schte, der Frau an seiner Seite einen Gute-Nacht-Wunsch zumurmelte und nach wenigen Atemz?gen einschlief. Erst wenn ihn seine Blase um zwei oder drei Uhr weckte, konnte es vorkommen, dass er den Schlaf nicht gleich wieder fand, dann stand er auf, nahm das Buch in die Hand und schlich sich leise aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in seinen Arbeitsraum, bettete sich dort auf seine Couch und las so lange, bis ihm die Augen zufielen.
Er dachte an den morgigen Tag, es war ein Montag, das hie? dass ihn eine volle Praxis erwartete. Um halb elf waren sie beide zu Bett gegangen, nun zeigten die Leuchtziffern seiner Uhr schon fast Mitternacht, und er sah seine Ruhezeit dahinschrumpfen, denn morgens um sechs w?rde mitleidlos der Wecker klingeln. Aufstehen und ins Arbeitszimmer wechseln, mit dem Buch in der Hand? Er f?rchtete, dadurch seine Frau zu wecken, und er f?rchtete ihre Frage, ob er nicht schlafen k?nne. Warum, w?rde sie dann fragen, warum kannst du nicht schlafen? Dann m?sste er zu einer Notl?ge greifen. Manchmal, wenn ihm ein Behandlungsfehler unterlaufen war oder wenn sich eine folgenschwere Komplikation eingestellt hatte, was zum Gl?ck selten vorkam, stand der Patient nachts pl?tzlich vor ihm mit seinem ganzen Ungl?ck und wollte ihn nicht in den Schlaf entlassen. F?r solche F?e hatte er ein Sch?telchen Rohypnol in seiner Hausapotheke, aber er hasste es, wenn er sich bet?en musste, und zudem war er mit der Dosierung nie ganz sicher. Nahm er eine ganze Tablette, schlief er zwar gut ein, hatte aber gro? M?he mit dem Erwachen und musste noch lange in den Vormittag hinein mit der Wirkung k?fen, nahm er nur eine halbe Tablette, reichte diese unter Umst?en nicht zum Schlafen und gab ihm dennoch am n?sten Morgen ein dumpfes Gef?hl. Es hing von der Schwere des Problems ab, ob er die ganze oder die halbe Pille schluckte.
Und heute handelte es sich um ein schweres Problem.
Schlie?ich stand er leise auf und ging ins Badezimmer. Er nahm seine Zahnb?rste aus dem Glas, wusch es aus, f?llte es mit Wasser und nahm eine Rohypnol-Tablette aus der Wandapotheke. Einen Moment lang betrachtete er sie, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, das Glas in der einen, die Tablette in der andern Hand. Im sp?ichen Streulicht, das von drau?n hereinfiel, ging er vorsichtig zum Schreibtisch, stellte das Glas ab, legte die Pille daneben und dr?ckte den Schalter der Tischlampe.
Dann lehnte er sich zur?ck und dachte nach.
Wann genau war es gewesen? Vor 22 oder vor 23 Jahren? Er hatte es fast nicht begriffen damals, von sich selbst nicht begriffen. Nach und nach hatte er sich daran gew?hnt, dass es geschehen war; ?ern konnte er es ohnehin nicht mehr, erz?t hatte er es niemandem, die fortschreitende Zeit schob es jeden Tag etwas st?er in den Hintergrund, und so hatte er es schlie?ich f?r verj?t gehalten. Heute war ihm auf einmal klar geworden, dass es eine Verj?ung zwar in der Justiz geben mochte, niemals aber im Leben. Er mochte in mancher Hinsicht ein anderer gewesen sein seinerzeit, aber auf seiner Identit?karte stand immer noch derselbe Name, Manuel Ritter, und diese seine Identit?wurde jetzt aufgerufen. Er hatte anzutreten vor seiner eigenen Verantwortung, die hinter dem Gerichtspult sa?und mit einem H?erchen auf den Tisch schlug, wenn er zu seiner Verteidigung ausholte.
Er atmete tief ein und ?ffnete die Schublade seines Schreibtischs. Das alles war so lange her, dass er nicht mehr genau wusste, wo er den Umschlag aufbewahrt hatte.
Er zog unter Dokumenten wie seinem Dienstb?chlein, seinem Impfausweis und seinen Arbeitszeugnissen die Kopien seiner Diplome als Arzt und als Facharzt hervor, deren Originale in seiner Praxis hingen, und legte alles auf den Schreibtisch. Als er ein B?ndelchen Briefe in der Hand hielt, trat seine Frau ein und legte ihm die Hand auf die Schulter.
?Julia?, sagte er, ?du hast mich erschreckt.?
?Schau mal an?, sagte sie, ?meine Briefe.? Sie fuhr ihm mit der Hand ganz leicht ?ber die Haare. ?Besch?igt es dich, dass unser Sohn so verliebt ist??
?Tats?lich?, sagte er, ?es ist ? es ist irgendwie eigenartig, dass wir eine ganze Generation vorger?ckt sind.?
Heute hatte ihr Sohn zum ersten Mal seine neue Freundin nach Hause gebracht, von der er ihnen schon eine Weile vorgeschw?t hatte.
?Und?, fragte sie, ?was hab ich dir geschrieben??
L?elnd schaute sie auf die Briefe mit ihrer Schrift und den Briefmarken mit dem spanischen K?nig.
?Das wollte ich gerade ? das m?chte ich lieber alleine lesen?, sagte er.
Sie legte ihm die Hand wieder auf die Schulter.
?Hoffentlich kannst du dann noch schlafen?, sagte sie.
Er griff nach ihrer Hand.
?Hast du denn auch noch die Briefe von mir?? fragte er.
?Selbstverst?lich?, sagte sie, ?aber vielleicht schluckst du doch besser deine Pille. Gute Nacht, Lieber.? Sie beugte sich ?ber ihn und k?sste seinen Nacken.
Er lehnte sich zur?ck und hielt ihren Kopf mit beiden H?en.
?Gute Nacht, Julia?, sagte er.
Als sie sein Zimmer verlassen hatte, f?hlte er sich so allein, wie als Kind, wenn seine Mutter die T?r hinter sich zugezogen hatte und er im Bett die Nacht erwartete.
Dann schluckte er die ganze Tablette und trank das Glas Wasser leer.
Es waren nicht die Briefe, die er gesucht hatte.
Es war etwas anderes. Es war das einzige ?erbleibsel einer Geschichte, die ihm pl?tzlich wieder so lebhaft vor Augen stand, als sei sie gestern geschehen.
Am 5. Mai 1983 betrat Manuel Ritter auf dem Bahnhof Basel ein Erstklassabteil des Zuges nach Z?rich. Sobald er zwei freie Sitze sah, stellte er sein K?fferchen auf den einen, zog seinen Regenmantel aus, h?te ihn an den Haken dar?ber und setzte sich dann, etwas keuchend. Er hatte sich versp?t, aber beim Betreten der Bahnhofshalle war ihm auf der gro?n Abfahrtstafel aufgefallen, dass der Zug, der eigentlich schon h?e weg sein m?ssen, doch noch nicht abgefahren war, und mit einem Laufschritt war er durch die Unterf?hrung auf den Perron geeilt und eingestiegen.
Als sich der Wagen nun in Bewegung setzte, klopfte es von drau?n an sein Fenster, und eine Frau blickte ihn an, eindringlich, fast hilfesuchend, machte noch ein paar Schritte in der Fahrtrichtung, dann war sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Das ?ere Paar auf der andern Seite des Mittelgangs schaute leicht verwundert her?ber, Manuel zuckte l?elnd die Achseln und sch?ttelte den Kopf dazu.
Dann lehnte er sich zur?ck, und w?end sich der Zug ?ber verschiedene Weichen schob, als m?sse er sich seinen Weg aus der Stadt suchen, streckte ihm von einer H?erwand ein Cowboy seine durchl?cherten Schuhe entgegen, mit denen er meilenweit f?r eine Zigarette gegangen war.
Schon wurde die Minibar hereingezogen, und ein fr?hlicher S?dl?er rief ?Caf?Tee, Mineral!? durch den Wagen. Manuel konnte nicht widerstehen. Obwohl er heute sein Ma?an Koffein schon konsumiert hatte, lie?er sich einen Kaffee einschenken. Er bereute es schon nach dem ersten Schluck, lie?eine Weile die ganze H?lichkeit der Autobahnverschlingungen, Schallschutzw?e und B?rohochh?er an sich vorbeiziehen, ?ffnete dann sein K?fferchen und holte eine Mappe mit Unterlagen heraus. Er war Hals-, Nasen-, Ohrenarzt, hatte seit drei Jahren eine eigene Praxis und kam von einem Symposium ?ber Tinnitus. Zwei englische ?zte hatten am Vormittag ?ber ihre Arbeit mit Elektrostimulation berichtet, und am Nachmittag waren neue Ergebnisse medikament?ser Therapien vorgestellt und diskutiert worden. Auf beiden Gebieten hatte er wenig Ermutigendes geh?rt. Er schaute noch einmal die Tabellen mit den Prozentzahlen an und nahm die Stimme des Kondukteurs erst wahr, als sich dieser zu ihm herunterbeugte. W?end er seine entwertete Fahrkarte zur?ckerhielt, wurde an ihn offensichtlich noch eine Frage gerichtet, und auf sein ?Bitte?? wurde die Frage wiederholt, n?ich ob er sich noch nie den Kauf eines Halbtaxabonnements ?berlegt habe. Manuel murmelte, er fahre fast nie Zug, worauf ihm der Kondukteur, ein junger Blonder mit einem Ringlein im linken Ohr, entgegnete, es gen?gten schon drei solcher Fahrten innerhalb eines Jahres, damit es sich rentiere, und er gebe ihm hier einen Prospekt.
Manuel nickte und las dann statt der Tabelle den Prospekt, der ihm nebst sch?nsten Landschaften auch alle m?glichen Sonderaktionen und St?erabatte verhie? auf die einzugehen er keinen Anlass sah. Er fuhr mit seiner Frau und den Kindern regelm?g in eine Ferienwohnung im Engadin, das war sein Erholungsort im Sommer und im Winter, und wenn man eine Familie mit ihrer ganzen Winterausr?stung transportieren musste, war die Bahn f?r diese Reisen nicht geeignet. Gestern Abend hatte er seinen Wagen zum Service gebracht, deshalb hatte er heute nach Basel den Zug genommen, aber bei seiner Heimkehr w?rde das Auto bereits wieder vor seinem Haus stehen, auf seinen Garagisten war Verlass.
Als er erwachte, fuhr der Zug in Z?rich ein. Rasch versorgte er die ungelesene Mappe in seinem K?fferchen, lie?den Halbtaxprospekt liegen, nahm seinen Mantel ?ber den Arm, stieg aus und begab sich dann zum Gleis 11, auf dem die Z?ge vom rechten Ufer des Z?richsees ankamen und abfuhren. Obwohl er in Basel mit Versp?ng abgereist war, erreichte er noch den Anschluss, den er seiner Frau f?r die R?ckkehr angegeben hatte. Gerade kam der Zug an und entlie?beachtliche Menschenmengen. Es ging gegen acht Uhr abends, die Stadt stie?ihren Lockruf aus, der bis weit in die Orte der Umgebung drang und Vergn?gungen versprach, die es dort drau?n in dieser Dichte nicht gab, Filme, Musik, Tanz, Frauen, unberechenbares Leben.
Der Drang zur Stadt...
Details
Erscheinungsjahr: 2007
Genre: Romane & Erzählungen
Rubrik: Belletristik
Medium: Buch
Seiten: 176
Inhalt: 176 S.
ISBN-13: 9783630872667
ISBN-10: 3630872662
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Hohler, Franz
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 204 x 133 x 18 mm
Von/Mit: Franz Hohler
Erscheinungsdatum: 20.08.2007
Gewicht: 0,279 kg
preigu-id: 102042130
Details
Erscheinungsjahr: 2007
Genre: Romane & Erzählungen
Rubrik: Belletristik
Medium: Buch
Seiten: 176
Inhalt: 176 S.
ISBN-13: 9783630872667
ISBN-10: 3630872662
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Hohler, Franz
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 204 x 133 x 18 mm
Von/Mit: Franz Hohler
Erscheinungsdatum: 20.08.2007
Gewicht: 0,279 kg
preigu-id: 102042130
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