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Beschreibung
"Die letzten Tage des Eispalastes
Stellen Sie sich eine kurzgeschorene, sehr gepflegte Wiese vor. Darauf ein Pavillon im pseudochinesischen Stil, darunter eine sehr gepflegte deutsche Familie im Sonntagsstaat: Der Vater, die Mutter, ich, etwa dreizehn Jahre alt, und meine Schwestern, die Zwillinge, drei Jahre jünger. Dahinter ein großes Haus, eine große weiße Villa im Sonnenlicht. Es ist hell, eine fast gleißende Helle umgibt jene Menschen. Man sitzt um einen runden zartgrünen Marmortisch. Darauf stehen sechs Eisbecher mit Zitroneneis. Es sind sechs Stück, weil Keferloher zu Gast ist. Keferloher war es, der in dieser Sekunde unserer Allacher Villa, der riesigen weißen Jugendstilvilla im Norden Münchens den Namen Eispalast gab, scherzhaft, an jenem Augustnachmittag, an dem er mit meinen Eltern im Gartenpavillon Zitroneneis zu sich nahm und die Farbe dessen, was er aß, verglich mit der Farbe dessen, was er in der Sonne leuchten sah. Eispalast! rief ich, trunken von dem schönen Wort, und meine schwesterlichen Papageien griffen es mit ihren grellen Stimmchen auf: Eispalast! Eispalast! Cosima und Constanze hießen sie, benannt nach Komponistenwitwen. Ich nannte sie meistens Coco Eins und Coco Zwei. Keferloher war damals geschäftsführender Direktor in den Fabriken meines Vaters, Fabriken für Metallverarbeitung und Vulkanisiermaschinenbau, die ein Jahr nach Kriegsbeginn auf die Produktion von Rüstungsgütern aller Art umgestellt worden waren. Mein Vater betrat die Gebäude so selten wie ungern, ausschließlich zum Zweck der Repräsentation. Das Wort Fabrikbesitzer klang ihm verhaßt, als Beruf gab er stets, sogar bei den Behörden, Architekt an. Ohne je irgendwo ein Diplom abgelegt zu haben. Dennoch zu Recht. Wenn jemand für die Architektur gelebt hat, war es mein Vater; die Frage, ob er Talent besaß oder nicht, rückt in den Hintergrund vor so viel Passion. Er entwarf Kirchen, Brücken, Parkanlagen... Alles für die Schublade. Oder für eine ferne Zukunft - nach dem Krieg. Im Eispalast waren eine Köchin, zwei Putzfrauen, ein Diener, ein Gärtner und drei Erzieher angestellt. Kein Chauffeur. Das lohnte sich nicht. Papa fuhr immer selbst, wenn er fuhr, auch wenn das unsere Mutter entsetzlich fand. Mama litt unter gelegentlichen Ohnmachtsanfällen. Niedriger Blutdruck. Das war ihr peinlich, aber ansonsten ging es uns gut, mustergültig gut. Ein viertes Kind hätte ihr das Mutterkreuz beschert; sie legte keinen Wert darauf. Es ging uns so gut, daß Papa in jedem Jahr Familienfotos knipsen ließ und diese, wie Kunstwerke gerahmt, an die Wendeltreppe zum ersten Stock nageln ließ."
Stellen Sie sich eine kurzgeschorene, sehr gepflegte Wiese vor. Darauf ein Pavillon im pseudochinesischen Stil, darunter eine sehr gepflegte deutsche Familie im Sonntagsstaat: Der Vater, die Mutter, ich, etwa dreizehn Jahre alt, und meine Schwestern, die Zwillinge, drei Jahre jünger. Dahinter ein großes Haus, eine große weiße Villa im Sonnenlicht. Es ist hell, eine fast gleißende Helle umgibt jene Menschen. Man sitzt um einen runden zartgrünen Marmortisch. Darauf stehen sechs Eisbecher mit Zitroneneis. Es sind sechs Stück, weil Keferloher zu Gast ist. Keferloher war es, der in dieser Sekunde unserer Allacher Villa, der riesigen weißen Jugendstilvilla im Norden Münchens den Namen Eispalast gab, scherzhaft, an jenem Augustnachmittag, an dem er mit meinen Eltern im Gartenpavillon Zitroneneis zu sich nahm und die Farbe dessen, was er aß, verglich mit der Farbe dessen, was er in der Sonne leuchten sah. Eispalast! rief ich, trunken von dem schönen Wort, und meine schwesterlichen Papageien griffen es mit ihren grellen Stimmchen auf: Eispalast! Eispalast! Cosima und Constanze hießen sie, benannt nach Komponistenwitwen. Ich nannte sie meistens Coco Eins und Coco Zwei. Keferloher war damals geschäftsführender Direktor in den Fabriken meines Vaters, Fabriken für Metallverarbeitung und Vulkanisiermaschinenbau, die ein Jahr nach Kriegsbeginn auf die Produktion von Rüstungsgütern aller Art umgestellt worden waren. Mein Vater betrat die Gebäude so selten wie ungern, ausschließlich zum Zweck der Repräsentation. Das Wort Fabrikbesitzer klang ihm verhaßt, als Beruf gab er stets, sogar bei den Behörden, Architekt an. Ohne je irgendwo ein Diplom abgelegt zu haben. Dennoch zu Recht. Wenn jemand für die Architektur gelebt hat, war es mein Vater; die Frage, ob er Talent besaß oder nicht, rückt in den Hintergrund vor so viel Passion. Er entwarf Kirchen, Brücken, Parkanlagen... Alles für die Schublade. Oder für eine ferne Zukunft - nach dem Krieg. Im Eispalast waren eine Köchin, zwei Putzfrauen, ein Diener, ein Gärtner und drei Erzieher angestellt. Kein Chauffeur. Das lohnte sich nicht. Papa fuhr immer selbst, wenn er fuhr, auch wenn das unsere Mutter entsetzlich fand. Mama litt unter gelegentlichen Ohnmachtsanfällen. Niedriger Blutdruck. Das war ihr peinlich, aber ansonsten ging es uns gut, mustergültig gut. Ein viertes Kind hätte ihr das Mutterkreuz beschert; sie legte keinen Wert darauf. Es ging uns so gut, daß Papa in jedem Jahr Familienfotos knipsen ließ und diese, wie Kunstwerke gerahmt, an die Wendeltreppe zum ersten Stock nageln ließ."
"Die letzten Tage des Eispalastes
Stellen Sie sich eine kurzgeschorene, sehr gepflegte Wiese vor. Darauf ein Pavillon im pseudochinesischen Stil, darunter eine sehr gepflegte deutsche Familie im Sonntagsstaat: Der Vater, die Mutter, ich, etwa dreizehn Jahre alt, und meine Schwestern, die Zwillinge, drei Jahre jünger. Dahinter ein großes Haus, eine große weiße Villa im Sonnenlicht. Es ist hell, eine fast gleißende Helle umgibt jene Menschen. Man sitzt um einen runden zartgrünen Marmortisch. Darauf stehen sechs Eisbecher mit Zitroneneis. Es sind sechs Stück, weil Keferloher zu Gast ist. Keferloher war es, der in dieser Sekunde unserer Allacher Villa, der riesigen weißen Jugendstilvilla im Norden Münchens den Namen Eispalast gab, scherzhaft, an jenem Augustnachmittag, an dem er mit meinen Eltern im Gartenpavillon Zitroneneis zu sich nahm und die Farbe dessen, was er aß, verglich mit der Farbe dessen, was er in der Sonne leuchten sah. Eispalast! rief ich, trunken von dem schönen Wort, und meine schwesterlichen Papageien griffen es mit ihren grellen Stimmchen auf: Eispalast! Eispalast! Cosima und Constanze hießen sie, benannt nach Komponistenwitwen. Ich nannte sie meistens Coco Eins und Coco Zwei. Keferloher war damals geschäftsführender Direktor in den Fabriken meines Vaters, Fabriken für Metallverarbeitung und Vulkanisiermaschinenbau, die ein Jahr nach Kriegsbeginn auf die Produktion von Rüstungsgütern aller Art umgestellt worden waren. Mein Vater betrat die Gebäude so selten wie ungern, ausschließlich zum Zweck der Repräsentation. Das Wort Fabrikbesitzer klang ihm verhaßt, als Beruf gab er stets, sogar bei den Behörden, Architekt an. Ohne je irgendwo ein Diplom abgelegt zu haben. Dennoch zu Recht. Wenn jemand für die Architektur gelebt hat, war es mein Vater; die Frage, ob er Talent besaß oder nicht, rückt in den Hintergrund vor so viel Passion. Er entwarf Kirchen, Brücken, Parkanlagen... Alles für die Schublade. Oder für eine ferne Zukunft - nach dem Krieg. Im Eispalast waren eine Köchin, zwei Putzfrauen, ein Diener, ein Gärtner und drei Erzieher angestellt. Kein Chauffeur. Das lohnte sich nicht. Papa fuhr immer selbst, wenn er fuhr, auch wenn das unsere Mutter entsetzlich fand. Mama litt unter gelegentlichen Ohnmachtsanfällen. Niedriger Blutdruck. Das war ihr peinlich, aber ansonsten ging es uns gut, mustergültig gut. Ein viertes Kind hätte ihr das Mutterkreuz beschert; sie legte keinen Wert darauf. Es ging uns so gut, daß Papa in jedem Jahr Familienfotos knipsen ließ und diese, wie Kunstwerke gerahmt, an die Wendeltreppe zum ersten Stock nageln ließ."
Stellen Sie sich eine kurzgeschorene, sehr gepflegte Wiese vor. Darauf ein Pavillon im pseudochinesischen Stil, darunter eine sehr gepflegte deutsche Familie im Sonntagsstaat: Der Vater, die Mutter, ich, etwa dreizehn Jahre alt, und meine Schwestern, die Zwillinge, drei Jahre jünger. Dahinter ein großes Haus, eine große weiße Villa im Sonnenlicht. Es ist hell, eine fast gleißende Helle umgibt jene Menschen. Man sitzt um einen runden zartgrünen Marmortisch. Darauf stehen sechs Eisbecher mit Zitroneneis. Es sind sechs Stück, weil Keferloher zu Gast ist. Keferloher war es, der in dieser Sekunde unserer Allacher Villa, der riesigen weißen Jugendstilvilla im Norden Münchens den Namen Eispalast gab, scherzhaft, an jenem Augustnachmittag, an dem er mit meinen Eltern im Gartenpavillon Zitroneneis zu sich nahm und die Farbe dessen, was er aß, verglich mit der Farbe dessen, was er in der Sonne leuchten sah. Eispalast! rief ich, trunken von dem schönen Wort, und meine schwesterlichen Papageien griffen es mit ihren grellen Stimmchen auf: Eispalast! Eispalast! Cosima und Constanze hießen sie, benannt nach Komponistenwitwen. Ich nannte sie meistens Coco Eins und Coco Zwei. Keferloher war damals geschäftsführender Direktor in den Fabriken meines Vaters, Fabriken für Metallverarbeitung und Vulkanisiermaschinenbau, die ein Jahr nach Kriegsbeginn auf die Produktion von Rüstungsgütern aller Art umgestellt worden waren. Mein Vater betrat die Gebäude so selten wie ungern, ausschließlich zum Zweck der Repräsentation. Das Wort Fabrikbesitzer klang ihm verhaßt, als Beruf gab er stets, sogar bei den Behörden, Architekt an. Ohne je irgendwo ein Diplom abgelegt zu haben. Dennoch zu Recht. Wenn jemand für die Architektur gelebt hat, war es mein Vater; die Frage, ob er Talent besaß oder nicht, rückt in den Hintergrund vor so viel Passion. Er entwarf Kirchen, Brücken, Parkanlagen... Alles für die Schublade. Oder für eine ferne Zukunft - nach dem Krieg. Im Eispalast waren eine Köchin, zwei Putzfrauen, ein Diener, ein Gärtner und drei Erzieher angestellt. Kein Chauffeur. Das lohnte sich nicht. Papa fuhr immer selbst, wenn er fuhr, auch wenn das unsere Mutter entsetzlich fand. Mama litt unter gelegentlichen Ohnmachtsanfällen. Niedriger Blutdruck. Das war ihr peinlich, aber ansonsten ging es uns gut, mustergültig gut. Ein viertes Kind hätte ihr das Mutterkreuz beschert; sie legte keinen Wert darauf. Es ging uns so gut, daß Papa in jedem Jahr Familienfotos knipsen ließ und diese, wie Kunstwerke gerahmt, an die Wendeltreppe zum ersten Stock nageln ließ."
Details
Erscheinungsjahr: | 2006 |
---|---|
Medium: | Buch |
Inhalt: | 320 S. |
ISBN-13: | 9783832179885 |
ISBN-10: | 3832179887 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Krausser, Helmut |
dumont buchverlag gmbh & co. kg: | DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG |
Maße: | 212 x 150 x 27 mm |
Von/Mit: | Helmut Krausser |
Erscheinungsdatum: | 08.06.2006 |
Gewicht: | 0,477 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2006 |
---|---|
Medium: | Buch |
Inhalt: | 320 S. |
ISBN-13: | 9783832179885 |
ISBN-10: | 3832179887 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Krausser, Helmut |
dumont buchverlag gmbh & co. kg: | DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG |
Maße: | 212 x 150 x 27 mm |
Von/Mit: | Helmut Krausser |
Erscheinungsdatum: | 08.06.2006 |
Gewicht: | 0,477 kg |
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