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Die Torte
Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen M?tzen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und St?hle sind ?ber verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinauff?hren, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und ?ppigen Rhododendronb?schen, mit seiner m?tigen Mittelterrasse, auf der zwischen S?en mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu h?ren, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in einem Geb?e, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal un?lich sieht, einem Altersheim in einem der T?r hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Eckt?rme zur?ckversetzt, mit einem gro?n gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola m?ndet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unverg?licher Mosaikschrift der Name des Stifters.
In dieses Altersheim f?hrte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unz?igen Grundst?cke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschl? zur Zusammenlegung oder zu Abt?chen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines St?ck Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschlo? den Besitzer des Nachbargrundst?cks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich ?ber meinen Besuch, klagte ?ber sein abnehmendes Augenlicht und ?ber seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so da?er kaum mehr gehen k?nne, kurz, ?ber das ganze zusammenbrechende System seines K?rpers, f?r das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienb?e und erz?te mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 St?ck Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh ?brig geblieben ist.
W?end unseres Gespr?s lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb ge?ffnetem Mund im Bett und lie?nur von Zeit zu Zeit ein leises St?hnen h?ren. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
?Er h?rt nichts mehr?, sagte mein Bekannter, ?er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.?
Wir fuhren mit unserm Gespr? fort, und ich fragte, ob es fr?her auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: ?Un giorno vanno trovare la torta.? ?Eines Tages werden sie die Torte finden?, und lie?seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter l?elte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur ?la torta?, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund daf?r sei, wisse niemand, und es k?n auch keine Familienangeh?rigen zu Besuch, die man fragen k?nne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich ?ber ihn und fragte: ?Dove vanno trovare la torta?? ?Wo werden sie die Torte finden??
Ohne die Augen zu ?ffnen, sagte er: ?Nel lago.? ?Im See.?
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, da?die Seepolizei k?rzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine gro? Blechschachtel mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno? gefunden habe, in welcher verrostete Z?nder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit geh?rt haben k?nnten, und da?ein R?elraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, ri?die Augen weit auf und rief: ?L?hanno finalmente trovata!? ?Endlich haben sie sie gefunden!?
?Die Torte?? fragte ich und f?gte hinzu: ?Es war aber Dynamit drin.?
Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erz?en.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Ver?erung geschehen. Er sa?im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine M?tze mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno?, und so wie er dasa? h?e man ihn ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erz?te, trug er ohne zu stocken vor, so da?ich fast nicht glauben konnte, da?es sich um denselben r?chelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte.
?Nehmen Sie Platz?, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, ?ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erz?en. Mit Righetti? ? er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn ? ?hab ich schon gesprochen, er will auch zuh?ren.
Ich hei? Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich wei?nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen k?nnen ? Sie sind Deutschschweizer, nicht? ? wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums ?erleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf gef?hrt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, z?te, jeder Kastanienbaum bedeutete so und soviel Mahlzeiten f?r hungrige M?n, oft mu?en die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim M?n von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gew?hnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mu?en, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Gl?ck und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Gl?ck und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
Nat?rlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mu?en wir die gro? Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mu?en die Br?tchen beim B?er holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der K?chenmeister z?te sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Br?tchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, da?man als J?ngster alles zugeschoben bekam, worum sich die ?teren zu dr?cken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten ?bereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und f?r die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der T?lpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war t?ich um Leute herum, die gesellig, fr?hlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.?
Ernesto Tonini l?elte und schaute vom einen zum andern. Wir mu?en ziemlich ?berraschte Gesichter gemacht haben.
?Das h?et ihr nicht gedacht, stimmt?s oder hab ich Recht??
Wir zwei Zuh?rer nickten, und er fuhr weiter.
?Der B?erjunge, der mir jeweils die Br?tchen ?bergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was hei? Versammlung, es war eher eine Verschw?rung, sechs oder sieben M?er waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erz?te uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles geh?rt, und wie unser gro?r Genosse Lenin von der Schweiz nach Ru?and gefahren war und dort den Zar gest?rzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorl?ig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausfl?gen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.
Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus f?r mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wu?e nun, da?dies alles nicht so bleiben w?rde und da?ich eines Tages meine Geschwister, die als M?e, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel w?rde einladen k?nnen, in die Zimmer mit Seesicht.
Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrb?cher f?r Deutsch, Franz?sisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und w?end meiner Boteng?e hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei gut m?glich, da?man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die Weltgeschichte gemacht werde.
Wenn ich den fremden G?en die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und ?fters verlangten die G?e, da?sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und...
Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen M?tzen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und St?hle sind ?ber verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinauff?hren, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und ?ppigen Rhododendronb?schen, mit seiner m?tigen Mittelterrasse, auf der zwischen S?en mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu h?ren, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in einem Geb?e, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal un?lich sieht, einem Altersheim in einem der T?r hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Eckt?rme zur?ckversetzt, mit einem gro?n gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola m?ndet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unverg?licher Mosaikschrift der Name des Stifters.
In dieses Altersheim f?hrte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unz?igen Grundst?cke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschl? zur Zusammenlegung oder zu Abt?chen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines St?ck Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschlo? den Besitzer des Nachbargrundst?cks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich ?ber meinen Besuch, klagte ?ber sein abnehmendes Augenlicht und ?ber seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so da?er kaum mehr gehen k?nne, kurz, ?ber das ganze zusammenbrechende System seines K?rpers, f?r das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienb?e und erz?te mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 St?ck Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh ?brig geblieben ist.
W?end unseres Gespr?s lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb ge?ffnetem Mund im Bett und lie?nur von Zeit zu Zeit ein leises St?hnen h?ren. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
?Er h?rt nichts mehr?, sagte mein Bekannter, ?er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.?
Wir fuhren mit unserm Gespr? fort, und ich fragte, ob es fr?her auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: ?Un giorno vanno trovare la torta.? ?Eines Tages werden sie die Torte finden?, und lie?seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter l?elte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur ?la torta?, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund daf?r sei, wisse niemand, und es k?n auch keine Familienangeh?rigen zu Besuch, die man fragen k?nne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich ?ber ihn und fragte: ?Dove vanno trovare la torta?? ?Wo werden sie die Torte finden??
Ohne die Augen zu ?ffnen, sagte er: ?Nel lago.? ?Im See.?
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, da?die Seepolizei k?rzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine gro? Blechschachtel mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno? gefunden habe, in welcher verrostete Z?nder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit geh?rt haben k?nnten, und da?ein R?elraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, ri?die Augen weit auf und rief: ?L?hanno finalmente trovata!? ?Endlich haben sie sie gefunden!?
?Die Torte?? fragte ich und f?gte hinzu: ?Es war aber Dynamit drin.?
Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erz?en.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Ver?erung geschehen. Er sa?im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine M?tze mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno?, und so wie er dasa? h?e man ihn ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erz?te, trug er ohne zu stocken vor, so da?ich fast nicht glauben konnte, da?es sich um denselben r?chelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte.
?Nehmen Sie Platz?, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, ?ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erz?en. Mit Righetti? ? er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn ? ?hab ich schon gesprochen, er will auch zuh?ren.
Ich hei? Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich wei?nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen k?nnen ? Sie sind Deutschschweizer, nicht? ? wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums ?erleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf gef?hrt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, z?te, jeder Kastanienbaum bedeutete so und soviel Mahlzeiten f?r hungrige M?n, oft mu?en die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim M?n von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gew?hnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mu?en, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Gl?ck und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Gl?ck und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
Nat?rlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mu?en wir die gro? Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mu?en die Br?tchen beim B?er holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der K?chenmeister z?te sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Br?tchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, da?man als J?ngster alles zugeschoben bekam, worum sich die ?teren zu dr?cken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten ?bereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und f?r die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der T?lpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war t?ich um Leute herum, die gesellig, fr?hlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.?
Ernesto Tonini l?elte und schaute vom einen zum andern. Wir mu?en ziemlich ?berraschte Gesichter gemacht haben.
?Das h?et ihr nicht gedacht, stimmt?s oder hab ich Recht??
Wir zwei Zuh?rer nickten, und er fuhr weiter.
?Der B?erjunge, der mir jeweils die Br?tchen ?bergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was hei? Versammlung, es war eher eine Verschw?rung, sechs oder sieben M?er waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erz?te uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles geh?rt, und wie unser gro?r Genosse Lenin von der Schweiz nach Ru?and gefahren war und dort den Zar gest?rzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorl?ig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausfl?gen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.
Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus f?r mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wu?e nun, da?dies alles nicht so bleiben w?rde und da?ich eines Tages meine Geschwister, die als M?e, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel w?rde einladen k?nnen, in die Zimmer mit Seesicht.
Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrb?cher f?r Deutsch, Franz?sisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und w?end meiner Boteng?e hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei gut m?glich, da?man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die Weltgeschichte gemacht werde.
Wenn ich den fremden G?en die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und ?fters verlangten die G?e, da?sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und...
Die Torte
Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen M?tzen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und St?hle sind ?ber verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinauff?hren, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und ?ppigen Rhododendronb?schen, mit seiner m?tigen Mittelterrasse, auf der zwischen S?en mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu h?ren, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in einem Geb?e, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal un?lich sieht, einem Altersheim in einem der T?r hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Eckt?rme zur?ckversetzt, mit einem gro?n gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola m?ndet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unverg?licher Mosaikschrift der Name des Stifters.
In dieses Altersheim f?hrte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unz?igen Grundst?cke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschl? zur Zusammenlegung oder zu Abt?chen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines St?ck Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschlo? den Besitzer des Nachbargrundst?cks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich ?ber meinen Besuch, klagte ?ber sein abnehmendes Augenlicht und ?ber seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so da?er kaum mehr gehen k?nne, kurz, ?ber das ganze zusammenbrechende System seines K?rpers, f?r das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienb?e und erz?te mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 St?ck Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh ?brig geblieben ist.
W?end unseres Gespr?s lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb ge?ffnetem Mund im Bett und lie?nur von Zeit zu Zeit ein leises St?hnen h?ren. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
?Er h?rt nichts mehr?, sagte mein Bekannter, ?er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.?
Wir fuhren mit unserm Gespr? fort, und ich fragte, ob es fr?her auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: ?Un giorno vanno trovare la torta.? ?Eines Tages werden sie die Torte finden?, und lie?seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter l?elte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur ?la torta?, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund daf?r sei, wisse niemand, und es k?n auch keine Familienangeh?rigen zu Besuch, die man fragen k?nne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich ?ber ihn und fragte: ?Dove vanno trovare la torta?? ?Wo werden sie die Torte finden??
Ohne die Augen zu ?ffnen, sagte er: ?Nel lago.? ?Im See.?
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, da?die Seepolizei k?rzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine gro? Blechschachtel mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno? gefunden habe, in welcher verrostete Z?nder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit geh?rt haben k?nnten, und da?ein R?elraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, ri?die Augen weit auf und rief: ?L?hanno finalmente trovata!? ?Endlich haben sie sie gefunden!?
?Die Torte?? fragte ich und f?gte hinzu: ?Es war aber Dynamit drin.?
Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erz?en.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Ver?erung geschehen. Er sa?im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine M?tze mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno?, und so wie er dasa? h?e man ihn ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erz?te, trug er ohne zu stocken vor, so da?ich fast nicht glauben konnte, da?es sich um denselben r?chelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte.
?Nehmen Sie Platz?, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, ?ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erz?en. Mit Righetti? ? er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn ? ?hab ich schon gesprochen, er will auch zuh?ren.
Ich hei? Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich wei?nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen k?nnen ? Sie sind Deutschschweizer, nicht? ? wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums ?erleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf gef?hrt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, z?te, jeder Kastanienbaum bedeutete so und soviel Mahlzeiten f?r hungrige M?n, oft mu?en die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim M?n von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gew?hnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mu?en, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Gl?ck und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Gl?ck und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
Nat?rlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mu?en wir die gro? Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mu?en die Br?tchen beim B?er holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der K?chenmeister z?te sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Br?tchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, da?man als J?ngster alles zugeschoben bekam, worum sich die ?teren zu dr?cken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten ?bereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und f?r die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der T?lpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war t?ich um Leute herum, die gesellig, fr?hlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.?
Ernesto Tonini l?elte und schaute vom einen zum andern. Wir mu?en ziemlich ?berraschte Gesichter gemacht haben.
?Das h?et ihr nicht gedacht, stimmt?s oder hab ich Recht??
Wir zwei Zuh?rer nickten, und er fuhr weiter.
?Der B?erjunge, der mir jeweils die Br?tchen ?bergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was hei? Versammlung, es war eher eine Verschw?rung, sechs oder sieben M?er waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erz?te uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles geh?rt, und wie unser gro?r Genosse Lenin von der Schweiz nach Ru?and gefahren war und dort den Zar gest?rzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorl?ig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausfl?gen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.
Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus f?r mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wu?e nun, da?dies alles nicht so bleiben w?rde und da?ich eines Tages meine Geschwister, die als M?e, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel w?rde einladen k?nnen, in die Zimmer mit Seesicht.
Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrb?cher f?r Deutsch, Franz?sisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und w?end meiner Boteng?e hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei gut m?glich, da?man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die Weltgeschichte gemacht werde.
Wenn ich den fremden G?en die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und ?fters verlangten die G?e, da?sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und...
Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen M?tzen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und St?hle sind ?ber verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinauff?hren, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und ?ppigen Rhododendronb?schen, mit seiner m?tigen Mittelterrasse, auf der zwischen S?en mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu h?ren, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in einem Geb?e, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal un?lich sieht, einem Altersheim in einem der T?r hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Eckt?rme zur?ckversetzt, mit einem gro?n gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola m?ndet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unverg?licher Mosaikschrift der Name des Stifters.
In dieses Altersheim f?hrte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unz?igen Grundst?cke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschl? zur Zusammenlegung oder zu Abt?chen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines St?ck Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschlo? den Besitzer des Nachbargrundst?cks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich ?ber meinen Besuch, klagte ?ber sein abnehmendes Augenlicht und ?ber seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so da?er kaum mehr gehen k?nne, kurz, ?ber das ganze zusammenbrechende System seines K?rpers, f?r das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienb?e und erz?te mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 St?ck Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh ?brig geblieben ist.
W?end unseres Gespr?s lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb ge?ffnetem Mund im Bett und lie?nur von Zeit zu Zeit ein leises St?hnen h?ren. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
?Er h?rt nichts mehr?, sagte mein Bekannter, ?er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.?
Wir fuhren mit unserm Gespr? fort, und ich fragte, ob es fr?her auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: ?Un giorno vanno trovare la torta.? ?Eines Tages werden sie die Torte finden?, und lie?seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter l?elte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur ?la torta?, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund daf?r sei, wisse niemand, und es k?n auch keine Familienangeh?rigen zu Besuch, die man fragen k?nne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich ?ber ihn und fragte: ?Dove vanno trovare la torta?? ?Wo werden sie die Torte finden??
Ohne die Augen zu ?ffnen, sagte er: ?Nel lago.? ?Im See.?
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, da?die Seepolizei k?rzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine gro? Blechschachtel mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno? gefunden habe, in welcher verrostete Z?nder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit geh?rt haben k?nnten, und da?ein R?elraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, ri?die Augen weit auf und rief: ?L?hanno finalmente trovata!? ?Endlich haben sie sie gefunden!?
?Die Torte?? fragte ich und f?gte hinzu: ?Es war aber Dynamit drin.?
Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erz?en.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Ver?erung geschehen. Er sa?im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine M?tze mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarno?, und so wie er dasa? h?e man ihn ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erz?te, trug er ohne zu stocken vor, so da?ich fast nicht glauben konnte, da?es sich um denselben r?chelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte.
?Nehmen Sie Platz?, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, ?ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erz?en. Mit Righetti? ? er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn ? ?hab ich schon gesprochen, er will auch zuh?ren.
Ich hei? Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich wei?nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen k?nnen ? Sie sind Deutschschweizer, nicht? ? wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums ?erleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf gef?hrt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, z?te, jeder Kastanienbaum bedeutete so und soviel Mahlzeiten f?r hungrige M?n, oft mu?en die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim M?n von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gew?hnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mu?en, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Gl?ck und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Gl?ck und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
Nat?rlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mu?en wir die gro? Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mu?en die Br?tchen beim B?er holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der K?chenmeister z?te sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Br?tchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, da?man als J?ngster alles zugeschoben bekam, worum sich die ?teren zu dr?cken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten ?bereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und f?r die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der T?lpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war t?ich um Leute herum, die gesellig, fr?hlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.?
Ernesto Tonini l?elte und schaute vom einen zum andern. Wir mu?en ziemlich ?berraschte Gesichter gemacht haben.
?Das h?et ihr nicht gedacht, stimmt?s oder hab ich Recht??
Wir zwei Zuh?rer nickten, und er fuhr weiter.
?Der B?erjunge, der mir jeweils die Br?tchen ?bergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was hei? Versammlung, es war eher eine Verschw?rung, sechs oder sieben M?er waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erz?te uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles geh?rt, und wie unser gro?r Genosse Lenin von der Schweiz nach Ru?and gefahren war und dort den Zar gest?rzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorl?ig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausfl?gen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.
Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus f?r mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wu?e nun, da?dies alles nicht so bleiben w?rde und da?ich eines Tages meine Geschwister, die als M?e, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel w?rde einladen k?nnen, in die Zimmer mit Seesicht.
Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrb?cher f?r Deutsch, Franz?sisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und w?end meiner Boteng?e hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei gut m?glich, da?man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die Weltgeschichte gemacht werde.
Wenn ich den fremden G?en die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und ?fters verlangten die G?e, da?sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und...
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