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Beschreibung
"Vorsicht, meine schöne Unbekannte! Vorsicht; aus einem Wagen heraustreten ist nicht so leicht, ja es kann ein entscheidender Schritt sein. Die Wagentritte sind ja so verkehrt eingerichtet, daß man alle seine Grazie fahren lassen muß, wenn man glücklich herauskommen will; Aber springen Sie doch um Gotteswillen nicht heraus, ich bitte Sie; es ist ja dunkel; ich will Sie nicht stören, ich bleibe dort unter der Straßenlaterne stehen, dann können Sie mich unmöglich sehen, und man wird doch nur dann verlegen, wenn man weiß, daß man gesehen wird - also steigen Sie aus! Lassen Sie den reizenden kleinen Fuß sich in der Welt versuchen! Nur Mut! Verlassen Sie sich auf ihn, er wird schon festen Grund finden, und erfaßt Sie für einen Augenblick ein Grauen, weil es Ihnen ist, als suchten Sie ihn vergebens, ja, ist Ihnen noch bange, nachdem Sie ihn gefunden? o, ziehen Sie nur rasch den andern Fuß nach - wer könnte so grausam sein, Sie in dieser gefährlichen Situation schweben zu lassen, wer wäre so alles Schönheitssinnes bar, daß er für die Offenbarung des Schönen kein Auge hätte?"
Mit diesen Sätzen beginnt einer der faszinierendsten und subtilsten philosophisch-literarischen Versuche, dem Phänomen des Erotischen auf die Spur zu kommen: Sören Kierkegaards Tagebuch des Verführers, das er dem ersten Band seines Erstlings Entweder-Oder beigegeben hatte. Alles, was Eros einmal bedeuten konnte, ist in diesen wenigen Sätzen schon angelegt. Johannes, genannt der Verführer, erblickt ein blutjunges Mädchen, dessen Knöchel sich beim Aussteigen aus eine Kutsche entblößt. Die Mischung unschuldiger Grazie und kindlicher Unbeholfenheit enthusiasmiert den verborgenen Beobachter, der in diesem Moment schon weiß, daß damit das Schicksal des Mädchens besiegelt ist. Wiewohl mit ihrem hübschen Fuß nach festen Grund tastend, graut der jungen Frau mit Recht vor diesem Schritt, sie ahnt die Gefahr, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Allerdings: ihr Verführer nimmt sich Zeit: "Nur nicht ungeduldig! Es muß alles in langsamen Zügen genossen werden." Johannes wird das Mädchen ein halbes Jahr lang nach allen Regeln der Kunst umgarnen, wird das erotische Spiel schlechthin, das von Andeutung und Zurücknahme, von Distanz und Nähe, von Angriff und Rückzug bis zum Exzeß spielen, solange, bis sein Opfer glaubt, ihn zu lieben, sie wird sich ihm hingeben, und er wird sie dann fallen lassen. Er hatte nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie ihren Körper begehrt, er hat in ihr die Schönheit begehrt und in dieser das Begehren selbst geliebt.
Die Klage über den Verlust des Erotischen ist gegenwärtig ubiquitär. Das erotische Begehren, die Koketterie und die Kunst der Verführung, die knisternde Spannung zwischen den Geschlechtern, die geheimnisvollen, anrüchigen und verbotenen Dimensionen des Begehrens, das Mysterium der Lust, aber auch die großen Ekstasen des Fleisches, die unbändigen Leidenschaften - all das sind Bestimmungen des Erotischen, die in einer Zeit, die nur noch von "Sex" spricht, höchst antiquiert wirken mögen. Das Erotische scheint verschwunden, an seine Stelle sind die unterschiedlichsten Varianten der Sexualität getreten, die längst zu einer rasch konsumierbaren Ware geworden sind. Wesentliches Kennzeichen des Erotischen - die spielerische Andeutung, das Offenhalten für Möglichkeiten, die schwebende Unsicherheit, auch das Abstandhalten und die Zurücknahme, das durchaus mit Schmerz und Anstrengung, mit Skrupeln und Ängsten verbundene Überwinden von inneren und äußeren Widerständen - sind dem Imperativ der schnellen, unmittelbaren und kosten
"Vorsicht, meine schöne Unbekannte! Vorsicht; aus einem Wagen heraustreten ist nicht so leicht, ja es kann ein entscheidender Schritt sein. Die Wagentritte sind ja so verkehrt eingerichtet, daß man alle seine Grazie fahren lassen muß, wenn man glücklich herauskommen will; Aber springen Sie doch um Gotteswillen nicht heraus, ich bitte Sie; es ist ja dunkel; ich will Sie nicht stören, ich bleibe dort unter der Straßenlaterne stehen, dann können Sie mich unmöglich sehen, und man wird doch nur dann verlegen, wenn man weiß, daß man gesehen wird - also steigen Sie aus! Lassen Sie den reizenden kleinen Fuß sich in der Welt versuchen! Nur Mut! Verlassen Sie sich auf ihn, er wird schon festen Grund finden, und erfaßt Sie für einen Augenblick ein Grauen, weil es Ihnen ist, als suchten Sie ihn vergebens, ja, ist Ihnen noch bange, nachdem Sie ihn gefunden? o, ziehen Sie nur rasch den andern Fuß nach - wer könnte so grausam sein, Sie in dieser gefährlichen Situation schweben zu lassen, wer wäre so alles Schönheitssinnes bar, daß er für die Offenbarung des Schönen kein Auge hätte?"
Mit diesen Sätzen beginnt einer der faszinierendsten und subtilsten philosophisch-literarischen Versuche, dem Phänomen des Erotischen auf die Spur zu kommen: Sören Kierkegaards Tagebuch des Verführers, das er dem ersten Band seines Erstlings Entweder-Oder beigegeben hatte. Alles, was Eros einmal bedeuten konnte, ist in diesen wenigen Sätzen schon angelegt. Johannes, genannt der Verführer, erblickt ein blutjunges Mädchen, dessen Knöchel sich beim Aussteigen aus eine Kutsche entblößt. Die Mischung unschuldiger Grazie und kindlicher Unbeholfenheit enthusiasmiert den verborgenen Beobachter, der in diesem Moment schon weiß, daß damit das Schicksal des Mädchens besiegelt ist. Wiewohl mit ihrem hübschen Fuß nach festen Grund tastend, graut der jungen Frau mit Recht vor diesem Schritt, sie ahnt die Gefahr, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Allerdings: ihr Verführer nimmt sich Zeit: "Nur nicht ungeduldig! Es muß alles in langsamen Zügen genossen werden." Johannes wird das Mädchen ein halbes Jahr lang nach allen Regeln der Kunst umgarnen, wird das erotische Spiel schlechthin, das von Andeutung und Zurücknahme, von Distanz und Nähe, von Angriff und Rückzug bis zum Exzeß spielen, solange, bis sein Opfer glaubt, ihn zu lieben, sie wird sich ihm hingeben, und er wird sie dann fallen lassen. Er hatte nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie ihren Körper begehrt, er hat in ihr die Schönheit begehrt und in dieser das Begehren selbst geliebt.
Die Klage über den Verlust des Erotischen ist gegenwärtig ubiquitär. Das erotische Begehren, die Koketterie und die Kunst der Verführung, die knisternde Spannung zwischen den Geschlechtern, die geheimnisvollen, anrüchigen und verbotenen Dimensionen des Begehrens, das Mysterium der Lust, aber auch die großen Ekstasen des Fleisches, die unbändigen Leidenschaften - all das sind Bestimmungen des Erotischen, die in einer Zeit, die nur noch von "Sex" spricht, höchst antiquiert wirken mögen. Das Erotische scheint verschwunden, an seine Stelle sind die unterschiedlichsten Varianten der Sexualität getreten, die längst zu einer rasch konsumierbaren Ware geworden sind. Wesentliches Kennzeichen des Erotischen - die spielerische Andeutung, das Offenhalten für Möglichkeiten, die schwebende Unsicherheit, auch das Abstandhalten und die Zurücknahme, das durchaus mit Schmerz und Anstrengung, mit Skrupeln und Ängsten verbundene Überwinden von inneren und äußeren Widerständen - sind dem Imperativ der schnellen, unmittelbaren und kosten
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Genre: Geisteswissenschaften, Kunst, Musik
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 240 S.
ISBN-13: 9783552051898
ISBN-10: 3552051899
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Liessmann, Konrad Paul
Redaktion: Liessmann, Konrad Paul
Herausgeber: Konrad Paul Liessmann
Hersteller: Zsolnay Verlag Wien
Verantwortliche Person für die EU: Carl Hanser Verlag GmbH & Co.KG, Vilshofener Str. 10, D-81679 München, info@hanser.de
Maße: 205 x 125 x 20 mm
Von/Mit: Konrad Paul Liessmann
Erscheinungsdatum: 18.03.2002
Gewicht: 0,289 kg
Artikel-ID: 133683118

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