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Der falsche Tote
Roman
Taschenbuch von Lars Saabye Christensen
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
1
Doch ich war nicht tot.
Doch es stand in der Zeitung.
Ich erhob mich langsam aus dem Sessel, ging zum Fernseher und ließ einen müden Zeigefinger mit schwarzem Rand unter einem bläulichen Nagel auf den Ausknopf fallen. Das Bild zog sich zusammen und verschwand. Der Mann, der eben noch finstere Wettermeldungen vorgelesen hatte, verschwand aus meinem Zimmer, wahrscheinlich ging er rüber zum Nachbarn und servierte dort weitere unangenehme Temperaturen. Ich stand eine Weile da und lauschte gedankenverloren der Straßenbahn, die die Theresesgate hinunterratterte, einigen Stimmen, die zu laut sprachen, um freundlich zu sein, und einem Plattenspieler, der sich in den Schlagersänger Jens Book-Jenssen verliebt hatte. Es dauerte eine Weile, bevor mein Kopf die Situation voll und ganz erfassen konnte, oder genauer gesagt, ich brauchte einige Minuten, bevor ich mich an das Jenseitige gewöhnt hatte. Dann nickte ich den Engeln zu und ging zurück zu meinem Sessel.
Es war keine groß aufgemachte Anzeige, kein unser lieber, schmerzlich vermisster oder unersetzlicher, keine Auflistung netter Namen, die sich meiner mit Wehmut erinnern. Nur mein Name. Hans Georg Windelband. Er ging nicht von jemandem. Er ging nur fort. Aus Oslo. Am 15. Februar 1978. Heute war der 18. Februar, Samstag. Hans Georg Windelband sollte am Dienstag, dem 21. Februar im Vestre Krematorium beigesetzt werden. Aus einem Schrank, der keine Zauberformeln braucht, um sich zu öffnen, holte ich eine Flasche hervor, deren Boden mit Calvados bedeckt war. Den goss ich in ein grünes Glas, setzte mich bequem in den Sessel und wartete auf die Glückwünsche.
Aber es kamen keine Glückwünsche. Das Telefon stand da wie ein kaltes Bügeleisen, vor mir lag die Aftenposten, die simplen Kreuzworträtsel grinsten mich daraus an. Und zwischen all den nichts sagenden Namen war ich platziert. Hans Georg Windelband. Ich dachte: Das ist das erste Mal, dass mein Name in der Zeitung steht. Dieser Gedanke machte nicht wenig Eindruck auf mich. Aber andererseits: Darf man alles glauben, was in der Zeitung steht?

2
Um 10 Uhr rief ich den Schlachter an. Er hatte Telefondienst. Er antwortete, bevor das erste Klingeln beendet war.
»Ja«, sagte er nur.
»Hier ist Hans Georg.«
»Ach. Da ist Hans Georg. Windelband. Und von wo aus rufst du an?«
»Aus dem Limabus. Ich unterhalte mich hier mit Dante und Raymond Chandler.«
»Hör auf mit dem Gerede.«
»Ich bin zu Hause«, sagte ich müde.
Der Schlachter atmete schwer in den Hörer.
»Was zum Teufel hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte er mit einer Mischung aus Resignation und Raserei.
»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. »Ich habe wirklich keine Ahnung.«
Ich beugte mich über den Tisch und fischte eine Hobby aus der Packung.
»Bist du noch da?«, rief der Schlachter.
»Ja sicher. Hab' mir nur eine Zigarette geholt.«
»Hör zu.« Jetzt war seine Stimme ernst. »Es ist schön, dass es dir gut geht und dass du in der Zeitung stehst, aber ich hoffe, du siehst ein, dass dein Debüt nicht gerade vielversprechend ist.«
»Das ist mir auch klar«, sagte ich.
Übrigens war es nicht das erste Mal, dass über mich etwas in der Zeitung stand. Aber ich hatte noch nie meinen Namen gedruckt gesehen, abgesehen vom Gemeindeblatt, als ich getauft wurde.
»Und was willst du nun machen?«
»Vielleicht könnten wir drüber reden. Deshalb rufe ich an. Wie wär's mit Tørteberg?«
»Wir!«
Der Hörer war stumm. Eine neue Book-Jenssen-Schallplatte wurde eine Etage höher aufgelegt. Wenn die Kastanien in der Bygdøy Allee erblühen. Draußen fiel Schnee.
»Nicht Tørteberg«, sagte der Schlachter schließlich. »Rosenborg in einer Viertelstunde.«
Ich hörte ein Klicken im Ohr.
Dieser Frühling ist unser Frühling.
Der Schnee hing schwer und eklig in der Luft, als ich aus dem Hinterhof rauskam und die Theresesgate schräg Richtung Matkroken überquerte. Beim Uhrmacher ein kleines Stück weiter war es acht Minuten nach zehn. Eine Straßenbahn schaukelte hinter mir. Ich sprang auf den Bürgersteig und sah eine Reihe weißer Gesichter Richtung Bislet und Innenstadt verschwinden. Die Straßen waren leer. Die hässlichen Häuser waren geschlossen und abgesperrt. Hier und da leuchteten einige grelle Fenster, und das Pissoir bei der Fagerborg Kirche stank schlimmer denn je. Das einzige Lebewesen, das ich sah, war ein blinder Mann, der mit seinem weißen Stock den Schnee vor sich wegbürstete und seinen großen, traurigen Kopf schüttelte. Viertel nach zehn ging ich die steile Treppe zum Rosenborg Restaurant hinauf.
Ich legte eine Krone in den Spielautomaten am Eingang und verlor sie. Im gleichen Moment sprach jemand hinter mir.
»Sei vorsichtig damit. Gibst du den kleinen Finger, verlierst du bald den Kopf.«
»Das ist eine humanitäre Tat«, sagte ich. »Ich würde nie auf die Idee kommen, vom Roten Kreuz Geld gewinnen zu wollen.«
»Dieses Jahr ist bestimmt das Jahr der Flüchtlinge«, sagte der Schlachter und schob die beiden Klappen zur Seite, die anstelle einer gewöhnlichen norwegischen Tür da waren und die dem Eintritt einen exotischen Touch verleihen sollten. Wir setzten uns an einen Fenstertisch. Jetzt war es überhaupt nicht mehr exotisch. Die Luft war voller Rauch und Dampf von feuchter Kleidung. Die Stimmen summten monoton, wie ein Motor, der nie richtig auf Touren kommt. Ab und zu durchbrach ein Lachen oder ein lautes Rülpsen das Summen. Alles war wie gehabt. Es war Winter in Norwegen. Das war traurig und nicht auszuhalten. Der Schlachter hielt zwei riesige rote Finger in die Luft, und kurz darauf stand eine alte, erschöpfte Kellnerin an unserem Tisch. Ich bestellte ein Bier und Zigaretten, der Schlachter bat um eine halbe Flasche Wermut und Eiswürfel. Die Kellnerin nahm unsere Signale mit einem Seufzen entgegen und verschwand im Nebel. Ohne etwas zu sagen, stand der Schlachter auf, schälte sich aus seinem riesigen Pelz, der ihn wie einen verrückten Eisbären aussehen ließ, und ging zur Toilette. Der Schlachter war riesig. Seine graue Anzugjacke spannte sich wie eine Zwangsjacke über seine Schultern und seinen Rücken, und ein Waldbesitzer wäre entzückt von seinen Schenkeln. Der fast kahle Kopf glänzte schon, und die wenigen Haare, die noch lebten, waren mit einem Optimismus und einer Sorgfalt zurechtgelegt worden, die man ihm ansonsten nicht zugetraut hätte. Wie ein langsamer Panzer bewegte er sich durch den vollen Raum. Er kam zurück, als die Kellnerin an unserem Tisch vorbeituckerte und die Waren auslieferte.
Ich trank einige Schluck Bier, steckte mir eine Zigarette an und wartete, dass er etwas sagen würde. Aber der Schlachter ließ die Flasche zwischen seinen fetten Fingern kreisen, sah mich ruhig an, hob das Glas und trank den Inhalt in einem Zug. Die Eiswürfel schlugen gegeneinander.
Er begann ohne Einleitung.
»Als ich dich aus dem Rinnstein gefischt habe, sahst du nicht viel besser aus als die Schweine, die in meinem Kühlraum am Haken hängen. Und seitdem bist du mir ständig zur Last gefallen. Es gibt immer nur Ärger mit dir. Ich muss wie ein Schießhund aufpassen. Und jedes Mal habe ich zu mir selbst gesagt: Hab' Geduld. Und was ist der Dank? Neue Probleme. Noch mehr Krach. Als ich heute die Anzeige sah, dachte ich: Endlich! Nun ist er in sichereren Händen. Und dann rufst du an. Du rufst an! Weißt du, warum ich aufpasse, dass du am Leben bleibst? Aus einem einzigen Grund! Eines schönes Tages, wenn meine beiden gewitzten Kinder konfirmiert werden, ziehe ich dich hervor, bitte sie, dieses Wrack anzugucken, und ich werde sagen: Vergesst niemals diese Kreatur. So dürft ihr nie werden!«
Er goss sich ein neues Glas ein, offensichtlich mit sich zufrieden. Es war eine hübsche Geschichte, die er da erzählte, aber er hatte nicht alles gesagt. Das wusste ich. Und er wusste, dass ich das wusste. Ich schaute ihn mit meinem Stahlblick an, siegesgewiss. »Ich brauche Hilfe.«
Der Schlachter stellte sein Glas ab.
»Ich setze nicht auf tote Pferde.«
»Schon gut«, sagte ich und stand auf. »Ich falle jetzt in Trab und verschwinde. Aber die Pferde, auf die du sonst gesetzt hast, waren auch nicht besonders kräftig. Oder?«
Ich sah ihn an. Es tut immer weh, zu sehen, wie große Männer verlegen werden. Er fiel zusammen, bekam einen dummen Gesichtsausdruck, er ähnelte einer von Vigelands Skulpturen, ich weiß nicht genau, welcher, aber ich glaube, derjenigen, die zuunterst im Monolithen liegt.
»Setz dich«, bat er. Er bat mich.
Ich setzte mich. Der Schlachter wurde wieder er selbst, beugte seinen Körper nach vorn über den Tisch, das Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt.
»Hör gut zu«, sagte er sanft wie ein Engel. »Hör sehr gut zu, denn es wird eine Weile vergehen, bevor wir beide wieder zusammen reden werden. Hörst du gut?«
»Ja«, sagte ich. »Ausgezeichnet.«
»Gut! Ich schlage dir vor, Ferien zu machen. Du siehst erschöpft aus. Dir sind sicher auch schon die dunklen Ränder unter deinen Augen aufgefallen.«
»Das ist der Stempel der Abstinenz«, sagte ich.
»Mag sein. Aber du brauchst Ferien. Wenn du beispielsweise morgen nach Paris fährst, kannst du für ein paar Monate im Lüvre herumschlendern.«
»Louvre«, verbesserte ich.
»Was?«
»Das wird u ausgesprochen, nicht ü. Louvre.«
»Also ...«, er holte tief Luft. »... morgen nimmst du dir ein Taxi zum Flughafen Fornebo, kaufst ein Ticket für den nächsten Flug nach Paris, kehrst im Louvre ein und bleibst da ein paar Monate.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Ich habe natürlich große Lust, nach Paris zu fahren«, sagte ich freundlich. »Aber das wird schwierig. Ich habe einige Probleme mit meinem Pass, weißt du. Weißt du?«
Der Schlachter war eine Weile still. Ich sah ihm ins Gesicht. Mir fiel auf, dass er sich ziemlich verändert hatte, seit ich ihn vor gut einem halben Jahr auf der Promenade kennen gelernt hatte. Es schien, als hätte sich das Fleisch vom Skelett gelöst und wäre in alle Richtungen geglitten. Die Wangen und das Kinn waren glatt...
1
Doch ich war nicht tot.
Doch es stand in der Zeitung.
Ich erhob mich langsam aus dem Sessel, ging zum Fernseher und ließ einen müden Zeigefinger mit schwarzem Rand unter einem bläulichen Nagel auf den Ausknopf fallen. Das Bild zog sich zusammen und verschwand. Der Mann, der eben noch finstere Wettermeldungen vorgelesen hatte, verschwand aus meinem Zimmer, wahrscheinlich ging er rüber zum Nachbarn und servierte dort weitere unangenehme Temperaturen. Ich stand eine Weile da und lauschte gedankenverloren der Straßenbahn, die die Theresesgate hinunterratterte, einigen Stimmen, die zu laut sprachen, um freundlich zu sein, und einem Plattenspieler, der sich in den Schlagersänger Jens Book-Jenssen verliebt hatte. Es dauerte eine Weile, bevor mein Kopf die Situation voll und ganz erfassen konnte, oder genauer gesagt, ich brauchte einige Minuten, bevor ich mich an das Jenseitige gewöhnt hatte. Dann nickte ich den Engeln zu und ging zurück zu meinem Sessel.
Es war keine groß aufgemachte Anzeige, kein unser lieber, schmerzlich vermisster oder unersetzlicher, keine Auflistung netter Namen, die sich meiner mit Wehmut erinnern. Nur mein Name. Hans Georg Windelband. Er ging nicht von jemandem. Er ging nur fort. Aus Oslo. Am 15. Februar 1978. Heute war der 18. Februar, Samstag. Hans Georg Windelband sollte am Dienstag, dem 21. Februar im Vestre Krematorium beigesetzt werden. Aus einem Schrank, der keine Zauberformeln braucht, um sich zu öffnen, holte ich eine Flasche hervor, deren Boden mit Calvados bedeckt war. Den goss ich in ein grünes Glas, setzte mich bequem in den Sessel und wartete auf die Glückwünsche.
Aber es kamen keine Glückwünsche. Das Telefon stand da wie ein kaltes Bügeleisen, vor mir lag die Aftenposten, die simplen Kreuzworträtsel grinsten mich daraus an. Und zwischen all den nichts sagenden Namen war ich platziert. Hans Georg Windelband. Ich dachte: Das ist das erste Mal, dass mein Name in der Zeitung steht. Dieser Gedanke machte nicht wenig Eindruck auf mich. Aber andererseits: Darf man alles glauben, was in der Zeitung steht?

2
Um 10 Uhr rief ich den Schlachter an. Er hatte Telefondienst. Er antwortete, bevor das erste Klingeln beendet war.
»Ja«, sagte er nur.
»Hier ist Hans Georg.«
»Ach. Da ist Hans Georg. Windelband. Und von wo aus rufst du an?«
»Aus dem Limabus. Ich unterhalte mich hier mit Dante und Raymond Chandler.«
»Hör auf mit dem Gerede.«
»Ich bin zu Hause«, sagte ich müde.
Der Schlachter atmete schwer in den Hörer.
»Was zum Teufel hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte er mit einer Mischung aus Resignation und Raserei.
»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. »Ich habe wirklich keine Ahnung.«
Ich beugte mich über den Tisch und fischte eine Hobby aus der Packung.
»Bist du noch da?«, rief der Schlachter.
»Ja sicher. Hab' mir nur eine Zigarette geholt.«
»Hör zu.« Jetzt war seine Stimme ernst. »Es ist schön, dass es dir gut geht und dass du in der Zeitung stehst, aber ich hoffe, du siehst ein, dass dein Debüt nicht gerade vielversprechend ist.«
»Das ist mir auch klar«, sagte ich.
Übrigens war es nicht das erste Mal, dass über mich etwas in der Zeitung stand. Aber ich hatte noch nie meinen Namen gedruckt gesehen, abgesehen vom Gemeindeblatt, als ich getauft wurde.
»Und was willst du nun machen?«
»Vielleicht könnten wir drüber reden. Deshalb rufe ich an. Wie wär's mit Tørteberg?«
»Wir!«
Der Hörer war stumm. Eine neue Book-Jenssen-Schallplatte wurde eine Etage höher aufgelegt. Wenn die Kastanien in der Bygdøy Allee erblühen. Draußen fiel Schnee.
»Nicht Tørteberg«, sagte der Schlachter schließlich. »Rosenborg in einer Viertelstunde.«
Ich hörte ein Klicken im Ohr.
Dieser Frühling ist unser Frühling.
Der Schnee hing schwer und eklig in der Luft, als ich aus dem Hinterhof rauskam und die Theresesgate schräg Richtung Matkroken überquerte. Beim Uhrmacher ein kleines Stück weiter war es acht Minuten nach zehn. Eine Straßenbahn schaukelte hinter mir. Ich sprang auf den Bürgersteig und sah eine Reihe weißer Gesichter Richtung Bislet und Innenstadt verschwinden. Die Straßen waren leer. Die hässlichen Häuser waren geschlossen und abgesperrt. Hier und da leuchteten einige grelle Fenster, und das Pissoir bei der Fagerborg Kirche stank schlimmer denn je. Das einzige Lebewesen, das ich sah, war ein blinder Mann, der mit seinem weißen Stock den Schnee vor sich wegbürstete und seinen großen, traurigen Kopf schüttelte. Viertel nach zehn ging ich die steile Treppe zum Rosenborg Restaurant hinauf.
Ich legte eine Krone in den Spielautomaten am Eingang und verlor sie. Im gleichen Moment sprach jemand hinter mir.
»Sei vorsichtig damit. Gibst du den kleinen Finger, verlierst du bald den Kopf.«
»Das ist eine humanitäre Tat«, sagte ich. »Ich würde nie auf die Idee kommen, vom Roten Kreuz Geld gewinnen zu wollen.«
»Dieses Jahr ist bestimmt das Jahr der Flüchtlinge«, sagte der Schlachter und schob die beiden Klappen zur Seite, die anstelle einer gewöhnlichen norwegischen Tür da waren und die dem Eintritt einen exotischen Touch verleihen sollten. Wir setzten uns an einen Fenstertisch. Jetzt war es überhaupt nicht mehr exotisch. Die Luft war voller Rauch und Dampf von feuchter Kleidung. Die Stimmen summten monoton, wie ein Motor, der nie richtig auf Touren kommt. Ab und zu durchbrach ein Lachen oder ein lautes Rülpsen das Summen. Alles war wie gehabt. Es war Winter in Norwegen. Das war traurig und nicht auszuhalten. Der Schlachter hielt zwei riesige rote Finger in die Luft, und kurz darauf stand eine alte, erschöpfte Kellnerin an unserem Tisch. Ich bestellte ein Bier und Zigaretten, der Schlachter bat um eine halbe Flasche Wermut und Eiswürfel. Die Kellnerin nahm unsere Signale mit einem Seufzen entgegen und verschwand im Nebel. Ohne etwas zu sagen, stand der Schlachter auf, schälte sich aus seinem riesigen Pelz, der ihn wie einen verrückten Eisbären aussehen ließ, und ging zur Toilette. Der Schlachter war riesig. Seine graue Anzugjacke spannte sich wie eine Zwangsjacke über seine Schultern und seinen Rücken, und ein Waldbesitzer wäre entzückt von seinen Schenkeln. Der fast kahle Kopf glänzte schon, und die wenigen Haare, die noch lebten, waren mit einem Optimismus und einer Sorgfalt zurechtgelegt worden, die man ihm ansonsten nicht zugetraut hätte. Wie ein langsamer Panzer bewegte er sich durch den vollen Raum. Er kam zurück, als die Kellnerin an unserem Tisch vorbeituckerte und die Waren auslieferte.
Ich trank einige Schluck Bier, steckte mir eine Zigarette an und wartete, dass er etwas sagen würde. Aber der Schlachter ließ die Flasche zwischen seinen fetten Fingern kreisen, sah mich ruhig an, hob das Glas und trank den Inhalt in einem Zug. Die Eiswürfel schlugen gegeneinander.
Er begann ohne Einleitung.
»Als ich dich aus dem Rinnstein gefischt habe, sahst du nicht viel besser aus als die Schweine, die in meinem Kühlraum am Haken hängen. Und seitdem bist du mir ständig zur Last gefallen. Es gibt immer nur Ärger mit dir. Ich muss wie ein Schießhund aufpassen. Und jedes Mal habe ich zu mir selbst gesagt: Hab' Geduld. Und was ist der Dank? Neue Probleme. Noch mehr Krach. Als ich heute die Anzeige sah, dachte ich: Endlich! Nun ist er in sichereren Händen. Und dann rufst du an. Du rufst an! Weißt du, warum ich aufpasse, dass du am Leben bleibst? Aus einem einzigen Grund! Eines schönes Tages, wenn meine beiden gewitzten Kinder konfirmiert werden, ziehe ich dich hervor, bitte sie, dieses Wrack anzugucken, und ich werde sagen: Vergesst niemals diese Kreatur. So dürft ihr nie werden!«
Er goss sich ein neues Glas ein, offensichtlich mit sich zufrieden. Es war eine hübsche Geschichte, die er da erzählte, aber er hatte nicht alles gesagt. Das wusste ich. Und er wusste, dass ich das wusste. Ich schaute ihn mit meinem Stahlblick an, siegesgewiss. »Ich brauche Hilfe.«
Der Schlachter stellte sein Glas ab.
»Ich setze nicht auf tote Pferde.«
»Schon gut«, sagte ich und stand auf. »Ich falle jetzt in Trab und verschwinde. Aber die Pferde, auf die du sonst gesetzt hast, waren auch nicht besonders kräftig. Oder?«
Ich sah ihn an. Es tut immer weh, zu sehen, wie große Männer verlegen werden. Er fiel zusammen, bekam einen dummen Gesichtsausdruck, er ähnelte einer von Vigelands Skulpturen, ich weiß nicht genau, welcher, aber ich glaube, derjenigen, die zuunterst im Monolithen liegt.
»Setz dich«, bat er. Er bat mich.
Ich setzte mich. Der Schlachter wurde wieder er selbst, beugte seinen Körper nach vorn über den Tisch, das Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt.
»Hör gut zu«, sagte er sanft wie ein Engel. »Hör sehr gut zu, denn es wird eine Weile vergehen, bevor wir beide wieder zusammen reden werden. Hörst du gut?«
»Ja«, sagte ich. »Ausgezeichnet.«
»Gut! Ich schlage dir vor, Ferien zu machen. Du siehst erschöpft aus. Dir sind sicher auch schon die dunklen Ränder unter deinen Augen aufgefallen.«
»Das ist der Stempel der Abstinenz«, sagte ich.
»Mag sein. Aber du brauchst Ferien. Wenn du beispielsweise morgen nach Paris fährst, kannst du für ein paar Monate im Lüvre herumschlendern.«
»Louvre«, verbesserte ich.
»Was?«
»Das wird u ausgesprochen, nicht ü. Louvre.«
»Also ...«, er holte tief Luft. »... morgen nimmst du dir ein Taxi zum Flughafen Fornebo, kaufst ein Ticket für den nächsten Flug nach Paris, kehrst im Louvre ein und bleibst da ein paar Monate.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Ich habe natürlich große Lust, nach Paris zu fahren«, sagte ich freundlich. »Aber das wird schwierig. Ich habe einige Probleme mit meinem Pass, weißt du. Weißt du?«
Der Schlachter war eine Weile still. Ich sah ihm ins Gesicht. Mir fiel auf, dass er sich ziemlich verändert hatte, seit ich ihn vor gut einem halben Jahr auf der Promenade kennen gelernt hatte. Es schien, als hätte sich das Fleisch vom Skelett gelöst und wäre in alle Richtungen geglitten. Die Wangen und das Kinn waren glatt...
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Medium: Taschenbuch
Seiten: 256
Originaltitel: Jokeren
Inhalt: 256 S.
ISBN-13: 9783442728657
ISBN-10: 3442728657
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Christensen, Lars Saabye
Übersetzung: Christel Hildebrandt
btb verlag: btb Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 187 x 118 x 17 mm
Von/Mit: Lars Saabye Christensen
Erscheinungsdatum: 01.01.2002
Gewicht: 0,241 kg
preigu-id: 104800300
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Medium: Taschenbuch
Seiten: 256
Originaltitel: Jokeren
Inhalt: 256 S.
ISBN-13: 9783442728657
ISBN-10: 3442728657
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Christensen, Lars Saabye
Übersetzung: Christel Hildebrandt
btb verlag: btb Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 187 x 118 x 17 mm
Von/Mit: Lars Saabye Christensen
Erscheinungsdatum: 01.01.2002
Gewicht: 0,241 kg
preigu-id: 104800300
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