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Beschreibung
1. Einleitung"Schulden muss man doch zurückzahlen." Diesen Satz legt der Wirt-schaftsethnologe David Graeber auf den ersten Seiten seiner umfangrei-chen Studie zur Geschichte der Verschuldung - provokant betitelt mit "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" (2012) - einer engagierten jungen An-wältin in den Mund, mit der er auf einer Gartenparty ein Gespräch über die Finanzkrise, den Internationalen Währungsfonds und die Möglichkeit eines Schuldenschnittes für Entwicklungsländer begann. Seine Selbstver-ständlichkeit bezieht der Satz über die Rückzahlungspflicht aus der scheinbar unumstößlichen Verbindlichkeit von Schulden und Schuld: Wer seinen finanziellen Verbindlichkeiten nicht nachkommt und vertragsbrüchig wird, wird schuldig im juristischen wie im moralischen Sinn. Während Graeber in seinem Buch historisch argumentiert, dass und warum Schulden durchaus nicht immer zurückzuzahlen sind, möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, was geschieht, wenn eine Privatperson ihre Schulden nicht zurückzahlt. Wie wirkt sich ökonomische Zahlungsunfähigkeit auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Schuldnern und Schuldnerinnen aus, was konstituiert ein verschuldetes Selbst? Rechtlich ist die Restschuldbefreiung in Deutschland seit 1999 möglich. Wenn aber aus der ökonomischen Transaktion der Schuldhaftigkeit auch ein moralischer Schuldzustand her-vorgeht, was geschieht bei einer finanziellen Entschuldung mit dieser Schuld?Schuldenfragen, Schuldverhältnisse und das verschuldete SelbstMein Forschungsanliegen lässt sich mit der Frage nach Ökonomie, Bedeutung und Praxis von Verschuldung umreißen, wie sie Schuldner/-innen in narrativen Interviews dargestellt haben. Wenn der ökonomische Alltag fragil und prekär wird, wie es vor allem, aber nicht erst seit der 2007 ausgebrochenen Finanz- und Schuldenkrise für Millionen von Menschen auch in Deutschland der Fall ist, erfahren Schulden eine besondere Aufmerksamkeit: Sie werden zum Maßstab der Lebensbewältigung und zum Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Rechnen, weiteres Leihen, Umschichten, Abstottern, Sparen und Verzichten bestimmen den Rhythmus des Alltags und der Teilhabe an Gesellschaft. Schulden vereinen individuelle wirtschaftliche Gegebenheiten mit Bedürfnissen, Möglichkeiten und Wünschen des Selbst. Als solche werden sie zum Fluchtpunkt moralischer Vorstellungen, denn Schulden und Schuld teilen sich einen "gemeinsamen semantischen Hallraum" (Suter 2016: 8).Dieser "Hallraum" ist diskursiv verfasst: Schuldendiskurse formen den Selbstentwurf des Subjekts (mit), gestalten die Vorstellung von ökonomi-scher Normalität und sozialer Inklusion und nehmen maßgeblich Einfluss auf die Verfasstheit des verschuldeten Selbst. Zwar gehen Verschuldete sowohl mit monetären Außenständen als auch mit moralischen Schuldzu-weisungen unterschiedlich um, gemeinsam ist ihnen jedoch ein verhältnis-mäßig hoher Aufwand, den sie sowohl im alltäglichen Wirtschaften sowie identitätspolitisch betreiben (müssen), um Schulden und Schuld zu erklä-ren, zu rechtfertigen oder abzustreiten. Dies trifft vor allem auf Schuld-ner/-innen zu, die vor oder in einem Verbraucherinsolvenzverfahren ste-hen, also qua Gesetz von ihren wirtschaftlichen Restschulden befreit werden wollen. Wie wird hier eine moralische Entschuldung auf der Ebene des Subjekts verhandelt? Denn auch wer von der Pflicht der Rückzahlung befreit ist, zum Beispiel durch die Privatinsolvenz, muss ihr doch "in seinem Verhalten, seiner Einstellung, seinem Bewegungsspielraum, Projekten, (im) eigenen subjektiven Engagement und der für die Arbeitssuche gewidmeten Zeit Rechnung tragen" (Lazzarato 2012: 94-95). Versteht man Schuld als Verletzung einer rechtlichen, sozialen oder moralischen Ordnung und kann diese gestörte Ordnung durch bestimmte Verhaltensweisen (auch) der Selbstschädigung wiederhergestellt werden (vgl. Horn 2007: Sp. 227-232), dann stehen diese Praktiken, Argumentationen und Denkweisen der Wiedergutmachung im Mittelpunkt meines Interesses.Ergänzen
1. Einleitung"Schulden muss man doch zurückzahlen." Diesen Satz legt der Wirt-schaftsethnologe David Graeber auf den ersten Seiten seiner umfangrei-chen Studie zur Geschichte der Verschuldung - provokant betitelt mit "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" (2012) - einer engagierten jungen An-wältin in den Mund, mit der er auf einer Gartenparty ein Gespräch über die Finanzkrise, den Internationalen Währungsfonds und die Möglichkeit eines Schuldenschnittes für Entwicklungsländer begann. Seine Selbstver-ständlichkeit bezieht der Satz über die Rückzahlungspflicht aus der scheinbar unumstößlichen Verbindlichkeit von Schulden und Schuld: Wer seinen finanziellen Verbindlichkeiten nicht nachkommt und vertragsbrüchig wird, wird schuldig im juristischen wie im moralischen Sinn. Während Graeber in seinem Buch historisch argumentiert, dass und warum Schulden durchaus nicht immer zurückzuzahlen sind, möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, was geschieht, wenn eine Privatperson ihre Schulden nicht zurückzahlt. Wie wirkt sich ökonomische Zahlungsunfähigkeit auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Schuldnern und Schuldnerinnen aus, was konstituiert ein verschuldetes Selbst? Rechtlich ist die Restschuldbefreiung in Deutschland seit 1999 möglich. Wenn aber aus der ökonomischen Transaktion der Schuldhaftigkeit auch ein moralischer Schuldzustand her-vorgeht, was geschieht bei einer finanziellen Entschuldung mit dieser Schuld?Schuldenfragen, Schuldverhältnisse und das verschuldete SelbstMein Forschungsanliegen lässt sich mit der Frage nach Ökonomie, Bedeutung und Praxis von Verschuldung umreißen, wie sie Schuldner/-innen in narrativen Interviews dargestellt haben. Wenn der ökonomische Alltag fragil und prekär wird, wie es vor allem, aber nicht erst seit der 2007 ausgebrochenen Finanz- und Schuldenkrise für Millionen von Menschen auch in Deutschland der Fall ist, erfahren Schulden eine besondere Aufmerksamkeit: Sie werden zum Maßstab der Lebensbewältigung und zum Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Rechnen, weiteres Leihen, Umschichten, Abstottern, Sparen und Verzichten bestimmen den Rhythmus des Alltags und der Teilhabe an Gesellschaft. Schulden vereinen individuelle wirtschaftliche Gegebenheiten mit Bedürfnissen, Möglichkeiten und Wünschen des Selbst. Als solche werden sie zum Fluchtpunkt moralischer Vorstellungen, denn Schulden und Schuld teilen sich einen "gemeinsamen semantischen Hallraum" (Suter 2016: 8).Dieser "Hallraum" ist diskursiv verfasst: Schuldendiskurse formen den Selbstentwurf des Subjekts (mit), gestalten die Vorstellung von ökonomi-scher Normalität und sozialer Inklusion und nehmen maßgeblich Einfluss auf die Verfasstheit des verschuldeten Selbst. Zwar gehen Verschuldete sowohl mit monetären Außenständen als auch mit moralischen Schuldzu-weisungen unterschiedlich um, gemeinsam ist ihnen jedoch ein verhältnis-mäßig hoher Aufwand, den sie sowohl im alltäglichen Wirtschaften sowie identitätspolitisch betreiben (müssen), um Schulden und Schuld zu erklä-ren, zu rechtfertigen oder abzustreiten. Dies trifft vor allem auf Schuld-ner/-innen zu, die vor oder in einem Verbraucherinsolvenzverfahren ste-hen, also qua Gesetz von ihren wirtschaftlichen Restschulden befreit werden wollen. Wie wird hier eine moralische Entschuldung auf der Ebene des Subjekts verhandelt? Denn auch wer von der Pflicht der Rückzahlung befreit ist, zum Beispiel durch die Privatinsolvenz, muss ihr doch "in seinem Verhalten, seiner Einstellung, seinem Bewegungsspielraum, Projekten, (im) eigenen subjektiven Engagement und der für die Arbeitssuche gewidmeten Zeit Rechnung tragen" (Lazzarato 2012: 94-95). Versteht man Schuld als Verletzung einer rechtlichen, sozialen oder moralischen Ordnung und kann diese gestörte Ordnung durch bestimmte Verhaltensweisen (auch) der Selbstschädigung wiederhergestellt werden (vgl. Horn 2007: Sp. 227-232), dann stehen diese Praktiken, Argumentationen und Denkweisen der Wiedergutmachung im Mittelpunkt meines Interesses.Ergänzen
Details
Erscheinungsjahr: | 2017 |
---|---|
Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 447 S. |
ISBN-13: | 9783593506883 |
ISBN-10: | 3593506882 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Paperback |
Autor: | Meyer, Silke |
Auflage: | 1/2017 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 214 x 142 x 28 mm |
Von/Mit: | Silke Meyer |
Erscheinungsdatum: | 11.05.2017 |
Gewicht: | 0,553 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2017 |
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Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 447 S. |
ISBN-13: | 9783593506883 |
ISBN-10: | 3593506882 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Paperback |
Autor: | Meyer, Silke |
Auflage: | 1/2017 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 214 x 142 x 28 mm |
Von/Mit: | Silke Meyer |
Erscheinungsdatum: | 11.05.2017 |
Gewicht: | 0,553 kg |
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