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Erzählung
Buch von Melitta Breznik
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Lange hat es gedauert, bis ich angefangen habe, die Geschichte meiner Gro?utter aufzuschreiben, von dem Zeitpunkt an gerechnet, als ich die Portr?ufnahme von ihr das erste Mal in H?en hielt. Es war im M? 1998, ich stand in einem kleinen Raum des Dokumentationszentrums f?r Euthanasie im Dritten Reich, in Hadamar.
Soweit ich mich zur?ckerinnern kann, existierte lediglich ein Photo, auf dem sie schemenhaft abgebildet war. Es zeigt einen zweist?ckigen Ziegelbau, aus dessen Fenster im oberen Stockwerk zwei Gestalten lehnen. Undeutlich erkennt man die Figur einer Frau und die eines Kindes, ihre Gesichtsz?ge verschwimmen. Von Gro?utter ist aus dieser Zeit kein weiteres Photo erhalten geblieben, in den Familienalben fanden sich Aufnahmen von Urgro?utter mit den Enkeln, von Gro?ater auf einer Bank sitzend, mit einem Kaninchen auf dem Arm, oder vom ersten Schultag der Mutter 1927, auf dem das in ein wei?s Kleid gesteckte M?hen mit Schmollmund und klaren Augen im Hinterhof des Wohnhauses neben einem mit besticktem Tuch gedeckten Tisch steht und in die Kamera blickt. Es ist der Hof, in dem sie mit ihrer Mutter und den anderen Frauen des Hauses gemeinsam die h?ig im ?erflu?vorhandenen Pflaumen zu Latwerge verkocht oder die Laken mit einem gro?n Holzl?ffel im Bottich ger?hrt hatte. Im Hintergrund sieht man einen Garten, getrennt durch einen Holzzaun, die Obstb?e tragen noch Bl?er, es ist Herbstbeginn, eine Tafel, die auf dem Tischchen an eine Vase gelehnt worden ist, verr?in einer Aufschrift das Jahr, mein erster Schultag.
Das Portr?hoto von Gro?utter war bei Eintritt in die Landesheilanstalt Hadamar gemacht worden, ich besitze es erst seit der Reise mit Mutter nach Deutschland, als wir gemeinsam, auf den Spuren der verlorenen Geschichte von Gro?utter, vier psychiatrische Kliniken in Hessen besuchten. Am unteren Rand des Bildes steht in geschwungenen handgeschriebenen Lettern der Name, eine Zeile tiefer, rechts die Nummer 5678, in der linken Ecke das Datum, August 35, Gro?utter war zu dieser Zeit neununddrei?g Jahre alt. Die ungeordneten glatten Haare sind aus der Stirn gestrichen, sie sehen fettig aus, das Gesicht ist aufgedunsen, der Blick ist in einer vordergr?ndig freundlichen Art auf den Betrachter gerichtet, Spott und ein naiver Hochmut liegen darin, so als ob sie die Situation nicht recht begreifen w?rde, oder doch, und sie h?e das Unausweichliche bereits erkannt, sich dem ergeben. Sobald sie den leicht in den Nacken gelegten Kopf nach vorne neigt, wenn sie vom Sessel aufsteht, auf dem sie nach Anweisungen des Photographen Platz genommen hat, werden ihr die Haare ins Gesicht fallen. Sie wird die Str?en mit der linken Hand hinter das Ohr streichen, w?end die Schwester ihren Arm nimmt und sie wieder zur?ck in den ?berf?llten Krankensaal f?hrt, wo ihr Bett neben dem Fenster steht, auf dessen brauner Woll?berdecke sie das Strickzeug liegengelassen hat, als man sie mitkommen hie? Der Nackenansatz ist wulstig, ihre Kinnpartie wird am Hals von einer weichen Falte gedoppelt, das Hemd, das sie tr?, ist vermutlich wei? es wirft an den Schultern Wellen, die Kn?pfe am ge?ffneten Revers sind nicht zu erkennen, lediglich ein in Kreuzstichen eingesticktes K f?t ?ber der rechten Brust auf, der Buchstabe davor hat sich im Schatten des Stoffes verkrochen. Krankenhaus, Klinik, Abteilung K, ein Anstaltshemd, es ist ungeb?gelt, vielleicht tr? sie es schon seit Tagen am Leib, der Kragen hat sich eingerollt, liegt locker am ?berbelichteten Teil der dem Betrachter zugewandten Schulter. Ich sitze an meinem Schreibtisch ?ber die alten Aufnahmen gebeugt, daneben einige Bilder von den Kliniken und Anstalten, die ich w?end der Reise gemacht habe, bl?ere in der Kopie der Krankengeschichte und lese Seite um Seite Eintr? ?ber eine Frau, die ich nicht kenne, von der meine Mutter immer behauptet hat, da?ich ihr sehr ?lich sei. Ich habe die Bilder rahmen lassen, die Portr?ufnahme der Frau im Anstaltshemd, das Photo von Mutter am ersten Schultag, und vom Haus mit dem ge?ffneten Fenster im zweiten Stock. Sie h?en sonst ?ber meinem Schreibtisch und werden dort bleiben, bis ich diesen Bericht beendet habe, anschlie?nd werde ich sie abnehmen und in das Familienalbum einordnen. Sie sind in meinem Kopf, mit allen Details, jedem kleinen Schatten, jeder angedeuteten Bewegung.

Wir waren am Morgen von Innsbruck aufgebrochen, an einem na?alten M?tag 1998, Mutter und Tochter, seit vielen Jahren wieder auf einer gemeinsamen Fahrt unterwegs. Der Schnee am Rand der Stra? war von Schotter geschw?t, Nebelschwaden stiegen aus den nassen ?kern, an deren flachen Krumen da und dort noch ein wei?r Fleck an den gefrorenen Krusten festhielt, die Erde dampfte, ein k?hler Windhauch wehte durch den Spalt des Autofensters, das ich ge?ffnet hatte, um den Rauch der Zigarette abziehen zu lassen. Aus dem kaputten Lautsprecher an der Fahrerseite dr?hnte heiser ein alter Schlager, ?Veronika, der Lenz ist da ??, ich hatte vor Beginn der Reise, mit deren Vorbereitung ich in den letzten Wochen besch?igt gewesen war, gen?gend Musikkassetten f?r das Autoradio ?berspielt, weil ich wu?e, da?ich auf den langen Fahrten manchmal in eine nicht zu durchbrechende Sprachlosigkeit verfallen w?rde, die f?r Beifahrer, ohne da?ich es wollte, be?stigend wirken konnte. Ich verkroch mich in die Monotonie der Stra?, der Landschaft, des Regens, der Motorger?che, und das Reden, die Unterhaltung wurde zur Anstrengung. Es gab keinen Grund nach Themen zu suchen, es gen?gte das Zufahren auf einen imagin?n Punkt am Horizont und das Kreisen meiner Gedanken, die sich wechselweise verlangsamten oder beschleunigten und schlie?ich st?ig wiederholten.
Diese Reise hatte immer konkretere Formen angenommen, nachdem ich mich im Dokumentationszentrum Hadamar erkundigt hatte, ob es m?glich sei, noch irgendwelche Hinweise auf ehemalige Anstaltsinsassen zu finden. Mutter wollte zun?st nichts davon wissen, war unentschlossen, als ich ihr unterbreitete, da?ich im Sinn hatte, verschiedene Kliniken in Deutschland zu besuchen, in denen Gro?utter untergebracht gewesen war, aber auch eine Reihe anderer Orte, die ich in meinem Kopf mit Mutters Jugend und mit ihrer Herkunft, aber auch mit der Zeit des Nationalsozialismus verband. Nachdem ich schlie?ich geplant hatte, mich allein auf den Weg zu machen, kam Mutters Zusage, sie war inzwischen fast achtzig und hatte seit f?nfzig Jahren nicht mehr an der Vergangenheit ger?hrt, bis ich eines Tages herausfinden wollte, wie Gro?utter verschwunden war und warum man in der Familie nichts mehr dar?ber wu?e. Ich lie?Mutter, die neben mir im Auto sa? erz?en, von den Nachbarn, von den Ausfl?gen, die sie regelm?g an den Wochenenden mit den Mitgliedern einer Wandergesellschaft f?r Senioren unternahm, an einen Ort mit einem malerischen See, zu einer mittelalterlichen Burg, man trieb sich auf flachen Spazierwegen herum, um anschlie?nd eine Weile im Wirtshaus zu sitzen. Ich kannte die Gruppenphotos, die sie mir gezeigt hatte, ich kannte die Gesichter und Namen der Teilnehmer, obwohl ich nur zweien oder dreien von ihnen pers?nlich begegnet war, und ich fragte mich jedesmal, was ich mit achtzig noch unternehmen w?rde. Seit es Vater nicht mehr gab, war Mutter oft auf Reisen, sie hatte jetzt Zeit, etwas von der Welt zu sehen, wie sie sagte, und es schien ihr gutzutun. Sie erz?te, da?alle paar Monate einer der Sitznachbarn im Bus nicht mehr mitfahren w?rde, und ich stellte mir vor, wie die anderen ihren Kindern oder Freunden erz?en w?rden, da?Mutter irgendwann einmal nicht mehr dabeisein w?rde. Ich wu?e, da?ich mich an den Gedanken gew?hnen mu?e, da?diese Frau, die jetzt neben mir sa?und mit der ich die Spuren ihrer eigenen Mutter verfolgen wollte, eines Tages nicht mehr anrufen, keine Rindsrouladen auf den Tisch stellen w?rde, wenn ich zu Besuch kam, und auch nicht an meiner W?he herumflicken, wenn sie zuf?ig einen losen Faden oder einen fehlenden Knopf entdeckt hatte.
Eine Landstra? in S?dbayern, direkt nach der ?sterreichischen Grenze, unsere Route sollte uns nach einer ersten ?ernachtung im Norden des Landes am n?sten Tag bis Hessen f?hren, wo wir einen g?nstigen Standort suchen wollten, von dem aus wir unsere Tagesausfl?ge zu den Kliniken in Merxhausen, Marburg, Hadamar und Frankfurt unternehmen konnten. Der erste Halt war in N?rnberg geplant, weder ich noch Mutter waren vorher schon einmal dort gewesen. Ich hatte nur eine ungef?e Ahnung von der Lage des Reichsparteitagsgel?es, das ich mir ansehen wollte, weil ich mich an die Aufmarschszenen aus Riefenstahls Film ?ber die Parteitagsversammlungen erinnerte, die f?r mich ein Bild f?r die Verf?hrung und Verf?hrbarkeit der Menschen damals darstellten. Wir hielten an einer Tankstelle an der Stadtgrenze, um nach der Richtung zu fragen und uns die Beine zu vertreten, denn ich hatte kein Gef?hl daf?r, wie lang die Fahrtstrecken sein durften, die ich Mutter zumuten konnte, und ich wu?e, trotz ihres Alters w?rde sie nichts sagen, wie immer ertrug sie den Rhythmus der anderen. Ich hatte dem rastlosen Fahren, das sonst von mir Besitz ergriff, bereits durch die Planung der Strecke ?ber Landstra?n zuvorkommen wollen, aber dem zu entgehen war mir auch diesmal nicht gelungen. Ich war seit Stunden nicht stehengeblieben, so als w?rde die gesch?tzte Kapsel, die der Innenraum des Autos f?r mich darstellte, jeden Bodenkontakt verlieren, je l?er ich mich darin aufhielt.
Erst als wir auf dem Spazierweg am Teich entlang, der im Reichsparteitagsgel?e lag, mitten unter Wochenendausfl?glern die Abendsonne genossen, war ich das Gef?hl los, mich einer Schaulust schuldig zu machen, das in den letzten Minuten der Fahrt hierher von mir Besitz ergriffen hatte. Allein die Anwesenheit hier hatte etwas Eigenartiges an sich, und vielleicht hatte es damit zu tun, da?wir hier die einzigen Fremden zu sein schienen, oder damit, da?es nicht zum Allgemeingut geh?rte, genauer ?ber das Gel?e Bescheid zu wissen, denn weder aus den schul?blichen Geschichtsb?chern noch...
Lange hat es gedauert, bis ich angefangen habe, die Geschichte meiner Gro?utter aufzuschreiben, von dem Zeitpunkt an gerechnet, als ich die Portr?ufnahme von ihr das erste Mal in H?en hielt. Es war im M? 1998, ich stand in einem kleinen Raum des Dokumentationszentrums f?r Euthanasie im Dritten Reich, in Hadamar.
Soweit ich mich zur?ckerinnern kann, existierte lediglich ein Photo, auf dem sie schemenhaft abgebildet war. Es zeigt einen zweist?ckigen Ziegelbau, aus dessen Fenster im oberen Stockwerk zwei Gestalten lehnen. Undeutlich erkennt man die Figur einer Frau und die eines Kindes, ihre Gesichtsz?ge verschwimmen. Von Gro?utter ist aus dieser Zeit kein weiteres Photo erhalten geblieben, in den Familienalben fanden sich Aufnahmen von Urgro?utter mit den Enkeln, von Gro?ater auf einer Bank sitzend, mit einem Kaninchen auf dem Arm, oder vom ersten Schultag der Mutter 1927, auf dem das in ein wei?s Kleid gesteckte M?hen mit Schmollmund und klaren Augen im Hinterhof des Wohnhauses neben einem mit besticktem Tuch gedeckten Tisch steht und in die Kamera blickt. Es ist der Hof, in dem sie mit ihrer Mutter und den anderen Frauen des Hauses gemeinsam die h?ig im ?erflu?vorhandenen Pflaumen zu Latwerge verkocht oder die Laken mit einem gro?n Holzl?ffel im Bottich ger?hrt hatte. Im Hintergrund sieht man einen Garten, getrennt durch einen Holzzaun, die Obstb?e tragen noch Bl?er, es ist Herbstbeginn, eine Tafel, die auf dem Tischchen an eine Vase gelehnt worden ist, verr?in einer Aufschrift das Jahr, mein erster Schultag.
Das Portr?hoto von Gro?utter war bei Eintritt in die Landesheilanstalt Hadamar gemacht worden, ich besitze es erst seit der Reise mit Mutter nach Deutschland, als wir gemeinsam, auf den Spuren der verlorenen Geschichte von Gro?utter, vier psychiatrische Kliniken in Hessen besuchten. Am unteren Rand des Bildes steht in geschwungenen handgeschriebenen Lettern der Name, eine Zeile tiefer, rechts die Nummer 5678, in der linken Ecke das Datum, August 35, Gro?utter war zu dieser Zeit neununddrei?g Jahre alt. Die ungeordneten glatten Haare sind aus der Stirn gestrichen, sie sehen fettig aus, das Gesicht ist aufgedunsen, der Blick ist in einer vordergr?ndig freundlichen Art auf den Betrachter gerichtet, Spott und ein naiver Hochmut liegen darin, so als ob sie die Situation nicht recht begreifen w?rde, oder doch, und sie h?e das Unausweichliche bereits erkannt, sich dem ergeben. Sobald sie den leicht in den Nacken gelegten Kopf nach vorne neigt, wenn sie vom Sessel aufsteht, auf dem sie nach Anweisungen des Photographen Platz genommen hat, werden ihr die Haare ins Gesicht fallen. Sie wird die Str?en mit der linken Hand hinter das Ohr streichen, w?end die Schwester ihren Arm nimmt und sie wieder zur?ck in den ?berf?llten Krankensaal f?hrt, wo ihr Bett neben dem Fenster steht, auf dessen brauner Woll?berdecke sie das Strickzeug liegengelassen hat, als man sie mitkommen hie? Der Nackenansatz ist wulstig, ihre Kinnpartie wird am Hals von einer weichen Falte gedoppelt, das Hemd, das sie tr?, ist vermutlich wei? es wirft an den Schultern Wellen, die Kn?pfe am ge?ffneten Revers sind nicht zu erkennen, lediglich ein in Kreuzstichen eingesticktes K f?t ?ber der rechten Brust auf, der Buchstabe davor hat sich im Schatten des Stoffes verkrochen. Krankenhaus, Klinik, Abteilung K, ein Anstaltshemd, es ist ungeb?gelt, vielleicht tr? sie es schon seit Tagen am Leib, der Kragen hat sich eingerollt, liegt locker am ?berbelichteten Teil der dem Betrachter zugewandten Schulter. Ich sitze an meinem Schreibtisch ?ber die alten Aufnahmen gebeugt, daneben einige Bilder von den Kliniken und Anstalten, die ich w?end der Reise gemacht habe, bl?ere in der Kopie der Krankengeschichte und lese Seite um Seite Eintr? ?ber eine Frau, die ich nicht kenne, von der meine Mutter immer behauptet hat, da?ich ihr sehr ?lich sei. Ich habe die Bilder rahmen lassen, die Portr?ufnahme der Frau im Anstaltshemd, das Photo von Mutter am ersten Schultag, und vom Haus mit dem ge?ffneten Fenster im zweiten Stock. Sie h?en sonst ?ber meinem Schreibtisch und werden dort bleiben, bis ich diesen Bericht beendet habe, anschlie?nd werde ich sie abnehmen und in das Familienalbum einordnen. Sie sind in meinem Kopf, mit allen Details, jedem kleinen Schatten, jeder angedeuteten Bewegung.

Wir waren am Morgen von Innsbruck aufgebrochen, an einem na?alten M?tag 1998, Mutter und Tochter, seit vielen Jahren wieder auf einer gemeinsamen Fahrt unterwegs. Der Schnee am Rand der Stra? war von Schotter geschw?t, Nebelschwaden stiegen aus den nassen ?kern, an deren flachen Krumen da und dort noch ein wei?r Fleck an den gefrorenen Krusten festhielt, die Erde dampfte, ein k?hler Windhauch wehte durch den Spalt des Autofensters, das ich ge?ffnet hatte, um den Rauch der Zigarette abziehen zu lassen. Aus dem kaputten Lautsprecher an der Fahrerseite dr?hnte heiser ein alter Schlager, ?Veronika, der Lenz ist da ??, ich hatte vor Beginn der Reise, mit deren Vorbereitung ich in den letzten Wochen besch?igt gewesen war, gen?gend Musikkassetten f?r das Autoradio ?berspielt, weil ich wu?e, da?ich auf den langen Fahrten manchmal in eine nicht zu durchbrechende Sprachlosigkeit verfallen w?rde, die f?r Beifahrer, ohne da?ich es wollte, be?stigend wirken konnte. Ich verkroch mich in die Monotonie der Stra?, der Landschaft, des Regens, der Motorger?che, und das Reden, die Unterhaltung wurde zur Anstrengung. Es gab keinen Grund nach Themen zu suchen, es gen?gte das Zufahren auf einen imagin?n Punkt am Horizont und das Kreisen meiner Gedanken, die sich wechselweise verlangsamten oder beschleunigten und schlie?ich st?ig wiederholten.
Diese Reise hatte immer konkretere Formen angenommen, nachdem ich mich im Dokumentationszentrum Hadamar erkundigt hatte, ob es m?glich sei, noch irgendwelche Hinweise auf ehemalige Anstaltsinsassen zu finden. Mutter wollte zun?st nichts davon wissen, war unentschlossen, als ich ihr unterbreitete, da?ich im Sinn hatte, verschiedene Kliniken in Deutschland zu besuchen, in denen Gro?utter untergebracht gewesen war, aber auch eine Reihe anderer Orte, die ich in meinem Kopf mit Mutters Jugend und mit ihrer Herkunft, aber auch mit der Zeit des Nationalsozialismus verband. Nachdem ich schlie?ich geplant hatte, mich allein auf den Weg zu machen, kam Mutters Zusage, sie war inzwischen fast achtzig und hatte seit f?nfzig Jahren nicht mehr an der Vergangenheit ger?hrt, bis ich eines Tages herausfinden wollte, wie Gro?utter verschwunden war und warum man in der Familie nichts mehr dar?ber wu?e. Ich lie?Mutter, die neben mir im Auto sa? erz?en, von den Nachbarn, von den Ausfl?gen, die sie regelm?g an den Wochenenden mit den Mitgliedern einer Wandergesellschaft f?r Senioren unternahm, an einen Ort mit einem malerischen See, zu einer mittelalterlichen Burg, man trieb sich auf flachen Spazierwegen herum, um anschlie?nd eine Weile im Wirtshaus zu sitzen. Ich kannte die Gruppenphotos, die sie mir gezeigt hatte, ich kannte die Gesichter und Namen der Teilnehmer, obwohl ich nur zweien oder dreien von ihnen pers?nlich begegnet war, und ich fragte mich jedesmal, was ich mit achtzig noch unternehmen w?rde. Seit es Vater nicht mehr gab, war Mutter oft auf Reisen, sie hatte jetzt Zeit, etwas von der Welt zu sehen, wie sie sagte, und es schien ihr gutzutun. Sie erz?te, da?alle paar Monate einer der Sitznachbarn im Bus nicht mehr mitfahren w?rde, und ich stellte mir vor, wie die anderen ihren Kindern oder Freunden erz?en w?rden, da?Mutter irgendwann einmal nicht mehr dabeisein w?rde. Ich wu?e, da?ich mich an den Gedanken gew?hnen mu?e, da?diese Frau, die jetzt neben mir sa?und mit der ich die Spuren ihrer eigenen Mutter verfolgen wollte, eines Tages nicht mehr anrufen, keine Rindsrouladen auf den Tisch stellen w?rde, wenn ich zu Besuch kam, und auch nicht an meiner W?he herumflicken, wenn sie zuf?ig einen losen Faden oder einen fehlenden Knopf entdeckt hatte.
Eine Landstra? in S?dbayern, direkt nach der ?sterreichischen Grenze, unsere Route sollte uns nach einer ersten ?ernachtung im Norden des Landes am n?sten Tag bis Hessen f?hren, wo wir einen g?nstigen Standort suchen wollten, von dem aus wir unsere Tagesausfl?ge zu den Kliniken in Merxhausen, Marburg, Hadamar und Frankfurt unternehmen konnten. Der erste Halt war in N?rnberg geplant, weder ich noch Mutter waren vorher schon einmal dort gewesen. Ich hatte nur eine ungef?e Ahnung von der Lage des Reichsparteitagsgel?es, das ich mir ansehen wollte, weil ich mich an die Aufmarschszenen aus Riefenstahls Film ?ber die Parteitagsversammlungen erinnerte, die f?r mich ein Bild f?r die Verf?hrung und Verf?hrbarkeit der Menschen damals darstellten. Wir hielten an einer Tankstelle an der Stadtgrenze, um nach der Richtung zu fragen und uns die Beine zu vertreten, denn ich hatte kein Gef?hl daf?r, wie lang die Fahrtstrecken sein durften, die ich Mutter zumuten konnte, und ich wu?e, trotz ihres Alters w?rde sie nichts sagen, wie immer ertrug sie den Rhythmus der anderen. Ich hatte dem rastlosen Fahren, das sonst von mir Besitz ergriff, bereits durch die Planung der Strecke ?ber Landstra?n zuvorkommen wollen, aber dem zu entgehen war mir auch diesmal nicht gelungen. Ich war seit Stunden nicht stehengeblieben, so als w?rde die gesch?tzte Kapsel, die der Innenraum des Autos f?r mich darstellte, jeden Bodenkontakt verlieren, je l?er ich mich darin aufhielt.
Erst als wir auf dem Spazierweg am Teich entlang, der im Reichsparteitagsgel?e lag, mitten unter Wochenendausfl?glern die Abendsonne genossen, war ich das Gef?hl los, mich einer Schaulust schuldig zu machen, das in den letzten Minuten der Fahrt hierher von mir Besitz ergriffen hatte. Allein die Anwesenheit hier hatte etwas Eigenartiges an sich, und vielleicht hatte es damit zu tun, da?wir hier die einzigen Fremden zu sein schienen, oder damit, da?es nicht zum Allgemeingut geh?rte, genauer ?ber das Gel?e Bescheid zu wissen, denn weder aus den schul?blichen Geschichtsb?chern noch...
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Genre: Romane & Erzählungen
Rubrik: Belletristik
Medium: Buch
Seiten: 144
Inhalt: 144 S.
ISBN-13: 9783630871288
ISBN-10: 3630871283
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Breznik, Melitta
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 210 x 130 x 15 mm
Von/Mit: Melitta Breznik
Erscheinungsdatum: 13.09.2002
Gewicht: 0,249 kg
preigu-id: 103671862
Details
Erscheinungsjahr: 2002
Genre: Romane & Erzählungen
Rubrik: Belletristik
Medium: Buch
Seiten: 144
Inhalt: 144 S.
ISBN-13: 9783630871288
ISBN-10: 3630871283
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Autor: Breznik, Melitta
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 210 x 130 x 15 mm
Von/Mit: Melitta Breznik
Erscheinungsdatum: 13.09.2002
Gewicht: 0,249 kg
preigu-id: 103671862
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