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Bildungsbürger als "Arbeiterfreunde": Thema und Fragestellungen
Diese Studie nimmt eine Gruppe aus Studenten, Theologen und Pädagogen in den Blick, die sich im Herbst 1911 daran machten, eine zugleich sichtbare und unsichtbare Demarkationslinie inmitten der eigenen Stadt zu überschreiten. Sie zogen auf die andere Seite der deutschen Hauptstadt, in das "dunkle Berlin" um den Schlesischen Bahnhof, in die Straßen und Hinterhöfe zwischen Großer Frankfurter Straße und Spree, zwischen den Gleisanlagen der Ostbahn und der Markthalle in der Andreasstraße, um zu helfen und zu erziehen, um einen Lichtschein von "wahrem Christentum" und einer besseren Welt in den Berliner Osten zu tragen - vor allem aber: um eine Realität kennenzulernen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt geblieben war. Sie versuchten ein Alltagsleben zu verstehen, das sie bislang nur aus Elendsreportagen, Boulevardblättern und der Kriminalstatistik kannten. Sie versuchten Zugang zu einer Jugend zu finden, über die sie durch die Schriften von Ernst Floessel und Clemens Schultz, den Arbeiterfreund und die Innere Mission im Evangelischen Deutschland informiert waren und von der sie bislang nur wussten, dass sie als "gefährdet und verwahrlost" galt - einer Jugend aus "Halbstarken", "Straßenjungen" und "Herumtreibern", die nach dem Urteil der einschlägigen Literatur entweder zu Delinquenten oder zu Kommunisten werden mussten. Und trotzdem suchten sie im Berliner Osten auch den "einfachen, bedeutenden Menschen", der sie aus den Beschränkungen ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und eines vorgezeichneten Akademikerlebens befreien würde. Damit waren sie "Wanderer zwischen den Welten", die zugleich Vermittler zwischen den Welten sein wollten: zwischen Tiergartenviertel und Schlesischem Bahnhof, zwischen "Gebildeten" und Arbeitern, zwischen bürgerlicher Kultur und proletarischem Alltag.
Diese Studie berichtet aber auch von einem weiten Kreis aus Politikern und Juristen, Professoren und Assessoren, Geheimräten und Geheimratswitwen, Landräten und Gutsbesitzern, Superintendenten und Verwaltungsbeamten, Publizisten und Kulturreformern, Musikern und Kunsterziehern, die die Arbeit der "Siedler" finanziell wie ideell unterstützt haben. Viele von ihnen haben die berüchtigte Gegend um den Schlesischen Bahnhof nie selbst betreten, und doch sind sie Teil dieser außergewöhnlichen sozialen Initiative gewesen. Zumindest verbindet sie eines mit den social explorers des Berliner Ostens: Sie alle waren davon überzeugt, dass die inneren Brüche der wilhelminischen Gesellschaft nur durch eine neue, umfassende soziale Bewegung und neue Formen der Verständigung zwischen den alten Bildungseliten und der städtischen Arbeiterbevölkerung zu überwinden seien. Sie gehörten - mit wenigen Ausnahmen - derselben soziokulturellen Formation an: dem protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertum der Übergangszeit zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik, das in diesem Zeitraum gravierende Abstiegserfahrungen und Legitimationskrisen zu bewältigen hatte. Die Expedition in den Berliner Osten hat ganz wesentlich mit diesen Erfahrungen zu tun. Denn in den Arbeiterquartieren des "dunklen Berlin" suchten die "Siedler" nicht nur "the other half", sondern sie suchten vor allem sich selbst und ihre legitime Position in einer sich rapide modernisierenden, aber auch krisenanfälligen Gesellschaft.
Das deutsche Bildungsbürgertum des ersten Jahrhundertdrittels ist aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mittlerweile relativ gut untersucht. Über die Bestandsaufnahmen des "Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte" und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur Geschichte des Bürgertums hinaus sind zahlreiche Studien erschienen, die sich in Überblicksdarstellungen oder anhand konkreter Gruppierungen, Vereine oder Institutionen mit der sozialen Lage und dem Selbstverständnis dieser - so Hans-Ulrich Wehler - "einzigartigen Sozialformation unter den westlichen Modern
Bildungsbürger als "Arbeiterfreunde": Thema und Fragestellungen
Diese Studie nimmt eine Gruppe aus Studenten, Theologen und Pädagogen in den Blick, die sich im Herbst 1911 daran machten, eine zugleich sichtbare und unsichtbare Demarkationslinie inmitten der eigenen Stadt zu überschreiten. Sie zogen auf die andere Seite der deutschen Hauptstadt, in das "dunkle Berlin" um den Schlesischen Bahnhof, in die Straßen und Hinterhöfe zwischen Großer Frankfurter Straße und Spree, zwischen den Gleisanlagen der Ostbahn und der Markthalle in der Andreasstraße, um zu helfen und zu erziehen, um einen Lichtschein von "wahrem Christentum" und einer besseren Welt in den Berliner Osten zu tragen - vor allem aber: um eine Realität kennenzulernen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt geblieben war. Sie versuchten ein Alltagsleben zu verstehen, das sie bislang nur aus Elendsreportagen, Boulevardblättern und der Kriminalstatistik kannten. Sie versuchten Zugang zu einer Jugend zu finden, über die sie durch die Schriften von Ernst Floessel und Clemens Schultz, den Arbeiterfreund und die Innere Mission im Evangelischen Deutschland informiert waren und von der sie bislang nur wussten, dass sie als "gefährdet und verwahrlost" galt - einer Jugend aus "Halbstarken", "Straßenjungen" und "Herumtreibern", die nach dem Urteil der einschlägigen Literatur entweder zu Delinquenten oder zu Kommunisten werden mussten. Und trotzdem suchten sie im Berliner Osten auch den "einfachen, bedeutenden Menschen", der sie aus den Beschränkungen ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und eines vorgezeichneten Akademikerlebens befreien würde. Damit waren sie "Wanderer zwischen den Welten", die zugleich Vermittler zwischen den Welten sein wollten: zwischen Tiergartenviertel und Schlesischem Bahnhof, zwischen "Gebildeten" und Arbeitern, zwischen bürgerlicher Kultur und proletarischem Alltag.
Diese Studie berichtet aber auch von einem weiten Kreis aus Politikern und Juristen, Professoren und Assessoren, Geheimräten und Geheimratswitwen, Landräten und Gutsbesitzern, Superintendenten und Verwaltungsbeamten, Publizisten und Kulturreformern, Musikern und Kunsterziehern, die die Arbeit der "Siedler" finanziell wie ideell unterstützt haben. Viele von ihnen haben die berüchtigte Gegend um den Schlesischen Bahnhof nie selbst betreten, und doch sind sie Teil dieser außergewöhnlichen sozialen Initiative gewesen. Zumindest verbindet sie eines mit den social explorers des Berliner Ostens: Sie alle waren davon überzeugt, dass die inneren Brüche der wilhelminischen Gesellschaft nur durch eine neue, umfassende soziale Bewegung und neue Formen der Verständigung zwischen den alten Bildungseliten und der städtischen Arbeiterbevölkerung zu überwinden seien. Sie gehörten - mit wenigen Ausnahmen - derselben soziokulturellen Formation an: dem protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertum der Übergangszeit zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik, das in diesem Zeitraum gravierende Abstiegserfahrungen und Legitimationskrisen zu bewältigen hatte. Die Expedition in den Berliner Osten hat ganz wesentlich mit diesen Erfahrungen zu tun. Denn in den Arbeiterquartieren des "dunklen Berlin" suchten die "Siedler" nicht nur "the other half", sondern sie suchten vor allem sich selbst und ihre legitime Position in einer sich rapide modernisierenden, aber auch krisenanfälligen Gesellschaft.
Das deutsche Bildungsbürgertum des ersten Jahrhundertdrittels ist aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mittlerweile relativ gut untersucht. Über die Bestandsaufnahmen des "Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte" und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur Geschichte des Bürgertums hinaus sind zahlreiche Studien erschienen, die sich in Überblicksdarstellungen oder anhand konkreter Gruppierungen, Vereine oder Institutionen mit der sozialen Lage und dem Selbstverständnis dieser - so Hans-Ulrich Wehler - "einzigartigen Sozialformation unter den westlichen Modern
Erscheinungsjahr: | 2013 |
---|---|
Genre: | Geisteswissenschaften, Geschichte, Kunst, Musik |
Jahrhundert: | 20. Jahrhundert |
Rubrik: | Geisteswissenschaften |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 451 S. |
ISBN-13: | 9783593397443 |
ISBN-10: | 3593397447 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Paperback |
Autor: | Wietschorke, Jens |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 215 x 140 x 25 mm |
Von/Mit: | Jens Wietschorke |
Erscheinungsdatum: | 09.03.2013 |
Gewicht: | 0,573 kg |
Erscheinungsjahr: | 2013 |
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Genre: | Geisteswissenschaften, Geschichte, Kunst, Musik |
Jahrhundert: | 20. Jahrhundert |
Rubrik: | Geisteswissenschaften |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 451 S. |
ISBN-13: | 9783593397443 |
ISBN-10: | 3593397447 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Paperback |
Autor: | Wietschorke, Jens |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 215 x 140 x 25 mm |
Von/Mit: | Jens Wietschorke |
Erscheinungsdatum: | 09.03.2013 |
Gewicht: | 0,573 kg |